Europas ABGRUND

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Hinter den "Politik- "oder "Demokratieverdrossenheiten" steckt ein geschichtsträchtiges Bedürfnis: Heilsverlangen. Gegen den Drang nach Geborgenheit im Kollektiv hilft kein warnendes "Nie wieder!"

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Hinter den "Politik- "oder "Demokratieverdrossenheiten" steckt ein geschichtsträchtiges Bedürfnis: Heilsverlangen. Gegen den Drang nach Geborgenheit im Kollektiv hilft kein warnendes "Nie wieder!"

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Endet nun die Periode des "Langen Friedens"? So nennt Steven Pinker in seinem Buch "Gewalt" (2011) die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Der dritte blieb bisher aus. Gewisse Warnzeichen lassen sich freilich nicht übersehen.

Wir waren mehrheitlich für ein vereintes Europa mit offenen Märkten, offenen Grenzen und einer übergreifenden Solidarität. Ebendieses Europa scheint abzubröckeln. Die Ströme der Flüchtlinge, die zu uns unterwegs sind, haben die Stimmung auch in jenen Ländern kippen lassen, die sich nicht gleich hinter Stacheldrahtzäunen verschanzten. Die Wirtschaftslage ist drückend, das Heer der Arbeitslosen wächst. Zugleich wirkt das Anschwellen einer neuen religiösen Militanz als Brandbeschleuniger. Der Ruf nach dem "starken Mann" wird schrill, skandiert von einem Mob, dem es nach Vernichtung innerer und äußerer Feinde gelüstet.

Die Stunde der "Rechtspopulisten"

Das ist die Stunde derer, die man heute verharmlosend "Rechtspopulisten" nennt. Grund genug, sich eingehender mit dem Stimmungshintergrund des Populismus zu beschäftigen. Diagnostische Pauschalierungen wie "Politik-" oder gar "Demokratieverdrossenheit" sind gewiss nicht unangebracht; ebenso wenig sind es Warnschilder nach dem Muster: "Wehret den Anfängen!" Aber derlei Rhetorik bleibt an der Oberfläche einer Untiefen-Problematik, die der Psalmist vor langer Zeit in die Formel goss: abyssus abyssum invocat.

Dass der Abgrund nach dem Abgrund rufe, mag zwar keine akkurate Übertragung aus dem Ursprungstext sein. Trotzdem formuliert sie ein Charakteristikum der vorerst diffusen Massengestimmtheit. Hinter den vordergründig umlaufenden "Verdrossenheiten" steckt, unschwer erahnbar, ein geschichtsträchtiges Bedürfnis: Heilsverlangen.

Die Völker der Moderne wollen nicht bloß Wohlstand und Freiheit und Rechtssicherheit; ja, sie wollen mehr als eine nationale Identität, die schemenhaft bleibt, ein bleiches Phantasma, zusammengestückelt aus nostalgisch verbrämten Geschichtsresten. Es gibt die fortdauernde Sehnsucht nach umfassender Sinnstiftung, die gegen alle zeitläufigen Widrigkeiten eine Geborgenheit im Kollektiv gewährt. Das ist der lockende Abgrund.

Numinoses Charisma des "Führers"

Dabei geht es um nicht weniger als das Schicksal des Volkes, verkörpert durch einen Führer, der Züge eines religiösen Repräsentanten oder göttlichen Gesandten trägt. Und darin gründet, dass alle großen Geschichtsverbrecher - der Name Hitlers steht uns am nächsten - eine Anziehungskraft ausüben, die zeitlos zu sein scheint, "ewig", solange das historische Gedächtnis als Mythenschmiede reicht. Das Charisma des Führers ist numinos.

Mit dem Begriff des Numinosen umschrieb der protestantische Theologe und Religionsgelehrte Rudolf Otto das ursprüngliche Gotteserlebnis. Ottos Werk "Das Heilige" ist ein Einwand gegen jede aufklärungsbeflissene Auslegungstradition. Der dieser Tradition gemäße Gott war jener der Gottesbeweise und der moralischen Vollkommenheit. Die ihm zugordnete Erlebniswelt sei indes, so Otto, eine der zunehmenden Ausdünnung und Abschwächung des Heiligen - des mysterium tremendum et fascinosum. Vor dem Mysterium kapituliere die Vernunft; alles Endliche erschaudere, während es sich zutiefst angezogen fühle: Der Homo religiosus strebe danach, sich im Göttlichen zu verlieren, ja, vollständig aufzulösen.

Ottos Buch, zuerst 1917 veröffentlicht, erfuhr große Aufmerksamkeit. Ähnlich wie in Sören Kierkegaards "Furcht und Zittern" (1843) wird bei Otto der primäre religiöse Bezug als ein individueller gedeutet: als das Singularverhältnis zwischen dem Schöpfer und seiner Kreatur. Doch die Umlegung des Konzepts auf das Kollektiv, ob ethnisch oder national, liegt gleichsam auf dem Weg einer politischen Theologie. Auf diesem Weg erfährt das Heilige eine dämonische Transformation. Deren Ausformung als Faschismus hat im Volks-und Führerkult des Nationalsozialismus einen grausigen Höhepunkt gefunden.

Entscheidend für die Stimmungslage, die dem kollektiv scharfgemachten Heiligen korrespondiert, ist das Moment des bekenntnishaft Irrationalen. Alle zentralen Symbole des Numinosen entziehen sich den Zivilisationsmedien, die nach Universalität streben, insofern sie die Menschheit als ein friedenswilliges Solidarsubjekt voraussetzen. Der Führer hingegen steht über Moral und Recht; er bildet die irdische Verkörperung des Absoluten, das, historisch konkret, als Schicksal des Volkes ausgeschildert wird. Einsichtig -und leider zu spät - sprach der deutsche Dichter Gottfried Benn vom "Schicksalsrausch", dem auch er im Sog Hitlers erlegen sei.

Wie immer sich der Faschismus darstellen mag, es gehört zu seiner Tiefengrammatik, dass das kollektivierte Numinose von Einwänden aus besorgtem Freiheits-,Menschenrechts- und Demokratiebewusstsein unberührt bleibt. Es verharrt ihnen gegenüber in schroffer "Transzendenz". Dies hat eine fatale Konsequenz: Unterm Bann der Theo-Politik erscheint gerade das unüberbietbar Böse sprunghaft - kippbildartig - als authentischer Ausdruck des Heils. Denn das Heilige, wie es der religiöse Irrationalismus beschwört, hat mit dem Radikalbösen gemein, dass es den absoluten Gegenpol zu Vernunft und Ethik bildet. Gott oder Teufel? Beide fallen hier in eins.

Dabei ist das "radicale Böse" laut Immanuel Kants "Erstem Stück" seiner "Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft" (1793) schon immer präsent. Es ist demnach einer Ursprungsneigung des Homo Sapiens geschuldet - der Neigung, wider besseres Wissen und Gewissen "böse Maximen" zur Richtlinie des eigenen Handelns zu wählen. Für diesen unheilvollen Zug der menschlichen Natur gibt es bei Kant keine rationale Erklärung. Sein Urteil: "Unbegreiflich."

Unwirksame Aufklärung

Kants Urteil mag als überholt gelten. Evolutionsgenetik und Hirnforschung haben tiefliegende und letztlich biologische Ursachen eines Hangs zum Bösen zutage gefördert. Doch in einer demokratisch besorgten Sichtweise bleibt die Diagnose "Unbegreiflich" alarmierend. Wenn nämlich die Faszination des Numinosen nicht nur Einzelne, sondern ein Kollektiv erfasst, wird Aufklärung weitgehend unwirksam. Gegen den Drang nach Geborgenheit - einer Geborgenheit, deren Realpräsenz sich wahnhaft als Schicksalsrausch ankündigt - hilft kein warnendes, mit historischem Lehrmaterial gespicktes "Nie wieder!". Noch immer gilt: abyssus abyssum invocat, denn der Mensch ist des Menschen Abgrund.

Säkularisierung, Laizismus und eine hedonistische Lebensausrichtung legen jenen Rumor nicht still, den Botho Strauß, unter Verwendung eines altgriechischen Mythologems, als "Anschwellenden Bocksgesang" (1993) charakterisierte: "Da die Geschichte nicht aufgehört hat, ihre tragischen Dispositionen zu treffen, kann niemand voraussehen, ob unsere Gewaltlosigkeit den Krieg nicht bloß auf unsere Kinder verschleppt." Wir müssen, über den posthistorischen Diskurs hinweg, wieder die Hinwendung der Massen zur Heilsgeschichte bedenken. Und wir müssen hoffen, dass sich die Völker Europas nicht erneut auf den "Abgrund des Heiligen" - die radikalböse Fratze des Heils - zubewegen. Dessen geschichtliche Ausmünzung heißt stets und unwiderruflich Krieg.

Der Autor ist Ao. Univ.-Prof. i. R. und unterrichtet Philosophie in Graz

Ontologie des Teufels

Mit einem Anhang: Über das Radikalgute.

Von Peter Strasser. Wilhelm Fink

2016. 128 S., kart., € 18,40

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