Exkursionen in die sprachliche Wildnis

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Das Leichteste ist, sich zu verlieben", sagt Thede Kahl. Dass der existenzielle Drang, sich auszudrücken, verstanden zu werden und das Gegenüber zu verstehen, dem Erwerb einer neuen Sprache zugute kommt, leuchtet ein. "Nur kann man nicht in jeder Sprache einen Partner haben", schränkt Kahl ein. Der habilitierte Linguist hat auf einem gestreiften Sofa im Lesesaal der Österreichischen Akademie der Wissenschaften Platz genommen. Seit 2013 ist Kahl, Professor für Südslawistik an der Universität Jena und Dozent am Institut für Romanistik der Universität Wien, hier Mitglied der philosophisch-historischen Klasse. Seine zusätzlichen Spezialisierungsbereiche: Neogräzistik und ethnolinguistische Feldforschung.

Besonders Letztere ist ihm wichtig. Kahls Leidenschaft für Sprachen -er selbst spricht mehr als 20, wenn man alle Varietäten zusammenrechnet -hat nämlich außerhalb der Bildungsinstitutionen ihren Anfang genommen. "Im Studium habe ich mich mit Latein, Altgriechisch und Sanskrit beschäftigt", sagt er. "Aber es ist mir nie gelungen, diese Sprachen für mich zu beleben. Stattdessen habe ich mich in die neugriechische Poesie und Musik verliebt."

"Alle Lücken schließen"

"Oh, Nordwind, schlag mir die Orangenzweige nicht gegen das Gesicht", hat Kahl Anfang der 1990er-Jahre in tadellosem Griechisch rezitiert; einen Kaffee hätte er in einer Strandbar bei Athen nicht bestellen können. Das änderte sich bei einem ersten längeren Aufenthalt, den er bewusst ohne Wörterbuch antrat. "Ich lerne am leichtesten in direktem Kontakt", sagt er. Und: "Es muss darum gehen, alle Lücken zu schließen. Wenn man eine Sprache nur für einen bestimmten Anlass wie den Sommerurlaub lernen will, wird man sie nie gut sprechen können."

Einsprachigkeit ist für Kahl ebenso wenig angebracht wie Scheu vor einer bildungsbürgerlichen Blamage: "Ich hab eine Sammlung von Asterix-,Donald-Duck-und anderen Comicbänden und weiß auch, wie die Protagonisten auf Serbisch und Georgisch heißen", sagt er mit Blick auf die verglasten Eichenholzvitrinen der Akademie.

Sprachen sind für Kahl nicht nur Mittelpunkt leidenschaftlicher Forschungsarbeit, sondern ebenso Mittel zum Zweck: als Öffner kaum erschlossener Kulturräume. Im März erschien sein Band "Natur und Mensch im Donaudelta", der "eine Gesamtdarstellung in der Tradition der wissenschaftlichen Landeskunde" sein will. Was er im Vorwort über die schwierige Themenauswahl schreibt, kann auch für den Fokus auf Fremdsprachen gelten: "Erwähnt man Tierarten aufgrund ihrer Häufigkeit oder gerade wegen ihrer Seltenheit? Fast jeder Besucher möchte über die Pelikane des Deltas informiert sein, die viel häufiger anzutreffenden Stechmücken vernachlässigen die meisten. Und ist es ethisch korrekt, diese Logik auch auf die Menschen anzuwenden? Geht man auf die Ethnien ein, die heute die Mehrheit bilden, oder auf diejenigen, welche kulturhistorisch den Raum besonders geprägt haben, heute aber vielleicht kleine Minderheiten ausmachen oder gar nicht mehr im Delta leben?"

Für Kahl ist die Antwort klar: Es geht ihm nicht um den Regelfall, sondern um das Besondere. "Ich habe eine große Schwäche für Sprachgemische", sagt er. "Es gibt eine slawische Gemeinschaft, die aus dem makedonischen Sprachraum in ein christliches Gebiet der Türkei vertrieben wurde, deren Sprache dort 400 Jahre antürkisiert wurde, die schließlich als Christen vertrieben wurden und heute in Griechenland leben. Die Vertreter sprechen ein Gemisch aus Mazedonisch, Bulgarisch, Türkisch und Griechisch."

An der Akademie der Wissenschaften leitet Kahl seit einigen Jahren die Kommission "Vanishing Languages and Cultural Heritage", die sich die Erforschung und Dokumentation gefährdeter Sprachen und Varietäten vorgenommen hat. Sprachgemeinschaften sollen dabei unterstützt werden, ihr kulturelles Erbe zu erkennen und zu schützen. "Der Gestus an sich ist ein arroganter", gesteht Kahl. "Wir erforschen Sprachen, die wir zu Beginn selbst nicht sprechen. Das kann aber sehr produktiv sein. Wenn ich in Sibirien Menschen auf Russisch befrage, kommt Wunderbares dabei heraus. Wir können die Menschen relativ schnell dazu provozieren, in ihrem Dialekt zu plaudern, und daraus eine Grammatik erstellen."

Zehn Sachverständige kommen in der Kommission zumindest zwei Mal im Jahr zusammen, um zu entscheiden, auf welche geografischen Gebiete sich die Forschungsarbeit der kommenden Monate richten wird. Osteuropa, der Balkan, der Iran, die Türkei, Zentralamerika und der finnisch-ungarische Raum kommen aufgrund der Kompetenzen des Teams infrage. Dass man deswegen nicht als Weltretter auftreten könne, sei klar, meint Kahl. Man habe ja einen wissenschaftlichen Auftrag. In einem Projekt will man nun eruieren, was Wissenschaftler für die Sprechergemeinschaften tun können - und umgekehrt.

Geistig und dental vollständig

Welche Personen Kahl und sein Team vor Ort als Gesprächspartner und damit Kulturträger auswählen, bleibt dabei selten dem Zufall überlassen. "Bei der Erforschung von Varietäten, die noch mehrere tausend Sprecher haben, gibt es durchaus einen Idealsprecher," erklärt er. "Dieser ist nicht von der Standardsprache beeinflusst, nicht zur Schule gegangen und geistig sowie im Bereich der Zähne vollständig." Auch den Anspruch an sich selbst hat Kahl im Hinblick auf seine "Feldaufenthalte" klar definiert - und er ist ziemlich hoch: "Ich versuche, innerhalb von Tagen oder weniger Wochen nicht nur so zu sprechen, wie Griechisch in Apulien gesprochen wird, sondern wie es in einem bestimmten Dorf Apuliens gesprochen wird." Doch die Dokumentation dieser vergessenen Kulturen kommt nicht bei jedem gut an: Immer wieder machen Kahl und seine Studenten vom Slawistikinstitut in Jena oder von der Romanistik in Wien mit besorgten Bürgermeistern oder der Geheimpolizei Bekanntschaft. Vor ein paar Jahren habe sogar der Präsident der Akademie, Anton Zeilinger, Beschwerdebriefe erhalten, in denen die Forschung Kahls als "antinational" und damit "kulturschädigend" bezeichnet wurde.

Zweisprachige Erziehung ist "normal"

Thede Kahl, der sich einmal bewusst gegen die Erforschung der Weltsprachen entschied, kümmern derlei Widerstände wenig. 1971 in Hamburg geboren, habe er selbst, wie er sagt, das Pech gehabt, "gnadenlos einsprachig aufgewachsen zu sein". Heute hält er eine zweisprachige Erziehung für "das Normale"."Dass wir nun alle eine internationale Sprache wie das Englische lernen, hat historische Gründe", sagt er. "Normal wäre aber, die Kontaktsprachen zu sprechen. Man muss sich in Wien nur umsehen: Türkisch, Ungarisch, Serbisch, Kroatisch, Bosnisch. Es ist haarsträubend, wie wenig Türkisch und Ungarisch unter den deutschen Muttersprachlern hier gesprochen wird."

Spricht's -und gibt seiner Frau über Skype Bescheid, dass er sich nun auf den Heimweg mache. Smartphone besitzt er keines. Die Gattin ist Aromunin, in Bukarest geboren und mit makedonischen Vorfahren. "Aromunisch entstammt übrigens der romanischen Sprachfamilie", sagt Kahl, der nicht nur Ehrendoktor der privaten Vasile-Goldis-Universität im rumänischen Arad ist sowie "Mensch des Jahres 2005 der Bana armaneasca Foundation" wurde, sondern auch die Verdienstmedaille Gagausiens besitzt. Aromunisch hat er schon gekonnt, bevor er seine Frau kennenlernte, erzählt Kahl. Aber die Liebe hat es noch ein wenig leichter gemacht.

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