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Das Wiener Volkstheater eröffnete mit einem Dokumentarstück über die NS-Euthanasie am Spiegelgrund.

Die Eröffnungspremiere der neuen Ära am Wiener Volkstheater unter Michael Schottenberg beschäftigt sich mit den Gespenstern der Spiegelgrund-Opfer. Choreograf und Regie-Berserker Johann Kresnik hat Christoph Klimkes Aufarbeitungsstück inszeniert. Mit diesem Start zeigt sich Schottenberg wagemutig. Er greift direkt in die wunden Stellen der Geschichte der Stadt.

Klimkes Stück über Euthanasieprogramme und Menschenexperimente endet keineswegs 1945, sondern wird zum Anklagestück im Feldzug für Demokratiepolitik. Exemplarisch greift er die Biografie des Spiegelgrundkindes Friedrich Zawrel heraus (bei Klimke Karl Fuchs genannt) und zeichnet dessen Lebensweg als Kette von Demütigungen bis in die Gegenwart nach.

Der Terror der Mächtigen

Die Götter in Weiß dealen mit Humankapital. Der Arzt und Psychiater Heinrich Gross, bis heute nicht verurteilt, wird beim Namen genannt. An mehr als 800 Kindern hat er in der ns-Zeit Experimente durchgeführt, Zawrel war einer von ihnen, der 1944 aus der Kinderklinik am Steinhof flüchten konnte. 1975 gibt es von Gross wieder ein vernichtendes psychiatrisches Gutachten über ihn. Auch in der Republik holt Zawrel der Terror der Mächtigen ein.

Wie immer greift Kresnik tief in die Kloake menschlicher Grauslichkeiten und politischer Versäumnisse. Er macht aus "Spiegelgrund" wieder eines seiner Personalstücke, nach Leni Riefenstahl, Gustaf Gründgens und Erst Jünger hat er jetzt sein Heinrich Gross-Dokumentartheater uraufgeführt. Wobei sich der Radikale aus Kärnten diesmal erstaunlich sanft zeigt. Nach dem Wirbel in Bremen wegen Sex- und Nacktszenen ist er in Wien zurückhaltender, wenn auch nicht gerade dezent. Gross' Genitalien sind hier Trophäe der untoten Spiegelgrundkinder, während ihre Gespenster (acht ältere Herren) nackt durch den Zuschauerraum gehen.

Vor allem Bernhard Hammers Bühne ist ein genialer Auftakt. Eine komplizierte Bühnenschräge verfremdet die realitätsgetreu nachgebildeten Pavillons. In dieser schwer zu bespielenden Schräge des Wahnsinns verschwinden die "unwerten Leben" in ihren Löchern und werden von Gross und seinen Assistenten wieder herausgezogen, um ihre Köpfe in Formaldehyd zu bewahren.

Hammer ist ein echter Könner, ein kluger Handwerker: Die Symmetrie der Bühne eröffnet die Optik der Unendlichkeit, wenn Kindersärge die Bühne pflastern. Im Jugendstil-Käfig Steinhofs werden die Spiegelgrundkinder in Kresniks starken Theaterbildern zu Experimentierfleisch. Überdimensionale Zwangsjacken fixieren ihre Leiber, kleine Spinnen in den Mordnetzen der ns-Wissenschaft. Forschung für den Führer betreibt Gross, der nach 1945 vom Nationalsozialisten ganz einfach zum Paradesozialisten avancierte. Kraftvolle chorische Szenen konterkarieren das stille Rasieren des Kopfes eines Knaben, dessen Schluchzen lautlos von der Leinwand her martert.

Eine starke Eröffnung

Das neue Ensemble besticht durch homogene Leistung. Vor allem Silvia Fenz als Anna, deren rebellischer Schädel ins Glas kommt, und Andreas Seifert als Karl Fuchs liefern eine starke und überzeugende Leistung. Rainer Frieb gibt die Figur des Gross. Er spielt den perfiden Täter als dämonischen Sadisten, der besessen von der Wissenschaft über Lebenswert und Unwert bestimmt. Damit wird er selbst zum Kranken - schade, weil damit der Brutalität der Realität ein Schlupfloch geboten wird, weil Klimkes Demokratiekritik kaum Raum hat und Kresniks politisches Hygienetheater nicht mehr als ein erhobener Zeigefinger ist.

Nach zaghaftem Beginn schwoll der Applaus nur allmählich an, bis das gesamte Team stürmisch umjubelt wurde. Im Anschluss versammelte sich die Wiener Stadtregierung in der neu eingerichteten "Roten Bar" zum Stelldichein. Ein neues Wiener Stadttheater ist erfolgreich eröffnet.

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