Facettenreiche Kaputtalismus-Kritik

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Die aktuelle (Wirtschafts-)Krise zog sich wie ein roter Faden durch viele Produktionen der Wiener Festwochen 2009 und präsentierte sich in ihren vielfältigen und unterschiedlichen Formen.

Die Wiener Festwochen der Ausgabe 2009 waren vor allem Festwochen des Schauspiels. Während die Musiktheaterschiene unter dem viel beschäftigten Stéphane Lissner ein Sparprogramm präsentierte, das wohl nicht nur der Wirtschaftskrise geschuldet war, schöpfte die Schauspielintendantin Stefanie Carp aus dem Vollen. Der mageren Ausbeute von zwei Konzerten, drei Musikinstallationen und zwei Opern - wobei eine davon, "Dido und Aeneas", noch eine Wiederaufnahme aus dem Jahr 2006 darstellte - stehen 28 Schauspielproduktionen gegenüber, und das mit angeblich gleich verteilten Budgetmitteln.

Was sich auf formaler Ebene als Ungleichgewicht zwischen Oper und Schauspiel abbildet, wird zum inhaltlichen Movens, wobei die Krise nicht konkret als alleinige der aktuellen Finanzwirtschaftskrise durch die Festwochen spukt, sondern sich in ihren vielfältigen Formen präsentiert.

"Riesenbutzbach", der jüngste Streich von Christoph Marthaler, an dem die Schauspielchefin als Dramaturgin mitwirkte, buchstabiert die aktuelle Krise noch am direktesten: Wenn die Marthaler'schen Figuren sich so schwer von dem lieb gewonnenen, wenn auch bescheidenen Wohlstand trennen können, so schwingt darin scharfe Analyse wie Parodie des Diskurses über die Krise mit.

Nicht weniger ironisch verfährt Rimini Protokoll: Wenn in "Das Kapital" der linke Wirtschaftsexperte und Herausgeber der neuen Ausgabe Thomas Kuczynski als er selbst auftritt, so verbinden sich persönliche Lebensläufe mit aktueller Kritik an blindgläubigem Gewinndenken. Aus dem Mehr an Finanzmitteln ist schon lange ein grundsätzliches Mehr geworden. So betrachtet Rimini Protokoll in seinen jüngeren Arbeiten jene Form des Kapitalismus, die den Menschen zur Ware erklärt. In ihrem Projekt "Black Tie" ist das Miriam Yung Min Stein, die als Baby von Südkorea nach Deutschland adoptiert wurde. "Ich werde an diesem Abend 277-mal, ich' sagen und nie wissen, wen ich meine."

Im Juli 1977 wird sie - wie übrigens Hunderte andere Mädchen auch - in einem Korb, mit Zeitungspapier bedeckt, vor dem Rathaus in Seoul abgestellt. Ein halbes Jahr später kommt sie zu Adoptiveltern nach Osnabrück, die viel Geld bezahlt haben, um "ein Kind zu retten". Miriam bleibt immer eine Fremde zwischen den Geschwistern, den Schulfreunden, den Kollegen. Als sie Jahre später nach Seoul fährt, ist sie ohne die Sprache auch hier eine Fremde. Für Miriam haben sich jene Kriterien, die Identität ausmachen, aufgehoben. Wenn sie - die das "große Los" gezogen hat - nach Europa verkauft wird, was macht sie dann aus? Ihre Hautfarbe, die Sprache, ihre DNA?

Was Rimini Protokoll hier konkret diskutiert, verhandeln die Festwochen grundsätzlich im forum-Projekt "Into the City", das vor allem die Türkei, Chile, den Libanon und Südafrika einlud.

Die Türkei zu Gast in Wien

Barbara Ehnes' "Istanbul, Transgelinler" beschäftigt sich etwa mit einem Istanbuler Stadtteil, der quasi als Ghetto für Kurdischstämmige, Transsexuelle, Roma und Afrikaner dient. Die Türkei tritt bei den Festwochen als Land auf, das beschäftigt oder zumindest ernsthaft beschäftigen sollte.

Wenn das Verhältnis zwischen Mann und Frau als größte Differenz zu Europa beschrieben wird, wie sieht dann die Lebensrealität moderner Frauen in der Türkei tatsächlich aus? In "Der Schrei der Eurydike" bettet Sahika Tekand Religion und weibliche Rebellion in den Überbau der Mythologie - und Mehmet Ali Alabora spielt sich in seinem Doku-Theater selbst, als modernen türkischen Künstler, der international denkt und arbeitet.

Dass die Krise auf der Differenz der "weißen" Welt gegenüber der übrigen Welt gründet, darauf lief nicht nur "Die Stadt der Musik" am Schöpfwerk hinaus. Auch Brett Bailey stellt in "Orfeus" Klischees auf den Kopf. Seine Protagonisten sind Afrikaner, mit ihnen geht der Zuschauer im Finsteren durch das aufgelassene Gelände der Gaswerke in Floridsdorf direkt in Richtung Dauerkrisenherde, begegnet Flüchtlingen, Outcasts und all jenen, die Gott scheinbar vergessen hat. Im Unterbau einer riesigen Halle aber sitzt der Gott der Unterwelt als weißer Kolonialherr vor seinem Apple-iBook. Ein zynischer alter Mann im Unterhemd steuert die Geschicke der Welt.

Peter Sellars löst in seinem "Othello" (siehe Seite 15) ethnische Zugehörigkeiten schließlich ganz auf. Sein Dramaturg Avery T. Willis formuliert im Probentagebuch, dass auf einem "Volkszählungsformular Othello und jede andere Figur bei der Frage nach der, Rasse' in Großbuchstaben einfach Mensch schreiben würde".

Dass die Krise nicht eine ist, die thematisch verhandelt werden muss, das lehren diese Festwochen. So ist in Zeiten der Krise das Bewusstsein stets disponibel für Zeichen der Krise. Es ist keine Frage der Thematisierung, sondern eine Frage der Rezeption. So kann noch jede Inszenierung als Kommentar dazu verstanden werden.

An Andreas Kriegenburgs großartiger intermedialer Übersetzung von Kafkas "Der Prozess" etwa interessiert nicht nur die gegenwärtige, so forcierte Adaptierung von Romanen im Theater, sondern das Verloren-Sein des Individuums im Gestrüpp der Bürokratie. In der einzigartigen Szene des Gefängnismalers Titorelli, der die Unmöglichkeit des Freispruchs des Menschen als rechtslegitime, rein sprachliche Kasuistik auslegt, wird das sinnlose Ankämpfen gegen das Ausgeliefertsein von der exzellenten Annette Paulmann in einer darstellerischen Tour de Force zelebriert.

In all den unterschiedlichen Produktionen ist die neue, für das Schauspielprogramm verantwortliche Stefanie Carp verlässliche Garantin für ein Theater, das sich einmischt, Stellung zu gesellschaftspolitischen Fragen bezieht, aber auch State of the Art ist. Darüber hinaus begleitete sie sämtliche Produktionen unermüdlich, indem sie Interviews und Publikumsgespräche führte. Nicht nur bei den medienprominent wichtigen Premieren war sie anzutreffen, sondern auch nach der zweiten Vorstellung, wenn es galt, die oft auch sperrigen Theaterformen zu diskutieren, die Interpretationen der Theaterkünstler dem Zuschauer näherzubringen. So stellte sich die Schauspielchefin als konsequente Vermittlerin dessen dar, was gegenwärtiges Theater zu sagen hat. Dieses beispiellose Engagement von höchster Stelle steht nicht nur für die hochreflexive Programmierung, sondern zeugt auch von der intellektuellen Redlichkeit Stefanie Carps, die in Festivalkreisen wohl ihresgleichen sucht.

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