Fast so wie in Missouri

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An der Dürren Liesing träumte Wiens "berühmter Gast" Mark Twain im Sommer 1898 vom Land seiner Kindheit.

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An der Dürren Liesing träumte Wiens "berühmter Gast" Mark Twain im Sommer 1898 vom Land seiner Kindheit.

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Mit einer simplen, wenn auch strapaziösen Behandlungsmethode lockt Herr Dr. Winternitz prominente und andere Neurastheniker, Rheumatiker und Kreislaufpatienten nach Kaltenleutgeben im südlichen Wienerwald. Er verschreibt ihnen Kaltwasserkuren in der Dürren Liesing. Hotels gibt es in dem strudelteigartig lang hingezogenen Ort nicht, nur Privatquartiere, darunter aber recht ansehnliche Landhäuser.

Zum Beispiel die Villa Paul-Hof. Die mietet im Sommer 1898 ein Amerikaner samt Frau und Tochter. Dabei hat er gar nicht die Absicht, die heilsamen Winternitzschen Gewalttouren mitzumachen. Natürlich braucht man in so einem Wohnsitz Personal. Der zeitweilige Hausherr und die Ladies lernen bald, wie man die Namen des Dienstmädels und der Köchin ausspricht, "aber nicht, wie man sie schreibt. Sie wurden in Ungarn und Polen erfunden, auf dem Papier sehen sie aus, als ob das Alphabet besoffen wäre."

Gleich so ein Pointe, typisch für "unseren berühmten Gast". Das ist er nämlich, dieser Mr. Samuel Langhorne Clemens, alias Mark Twain. Seit dem Herbst 1897 hält er sich in Wien auf und macht als global populärster amerikanischer Autor Furore. Die liberale Wiener Presse hat in Twain ein Dauerthema, ist er doch, wie weiland Figaro, überall anzutreffen: im Reichsrat und im Burgthe-ater, in Ausstellungen und auf den Promenaden, am Vortragspult und in den nobelsten Salons.

Deutschnationale Blätter und die "Reichspost" freilich gehen auf Distanz, denn sie ziehen aus dem richtigen Vornamen des Gefeierten irrige Schlüsse. Und ein junger Steppenwolf der Publizistik, Karl Kraus, verargt Twain Witze über Eigenheiten der deutschen Sprache, erblickt darin eine geistige Majestätsbeleidigung und schießt sich prompt auf diesen "Humorgreis" ein.

Greis? Das sitzt. Twain ist damals gerade 63, schon mit Silberlöwenmähne, doch still going strong. Der Ruhm, der ihm vorauseilte, steht allerdings in keinem Verhältnis zu seiner momentanen materiellen Situation. Das Falissement eines Verlags und geplatzte Projekte haben den wagemutigen aber sehr naiven Mann viel Geld gekostet. Sein Wanderleben hat vorwiegend ökonomische Beweggründe. Ein Hausstand gewohnten Stils käme ihn in den USA teurer als in Europa.

Außerdem versteht er ganz passabel Deutsch, liest Schopenhauer und Mommsen. Erprobt er seine Sprachkenntnisse in der Korrespondenz, dann geraten solche Briefe zu grammatikalischen Grotesken. Immerhin, eine Literarische Landschaft wird das Tal der Dürren Liesing samt Umraum durch ihn, denn damals wohnt Hofmannsthal noch nicht im nahen Rodaun und ein anderer Gast, der große polnische Romancier Henryk Sienkiewicz, widmet sich loco fast nur dem verordneten Pritscheln.

Twain entdeckt in dieser Gegend sogar Ähnlichkeiten mit der Umgebung der Farm seiner Jugendjahre. Der amerikanische Literaturhistoriker Carl Dolmetsch, der sich hier auf Spurensuche begab, schreibt darüber: "Auf seinen Wanderungen ging er durch Felder und an Bauernhäusern vorbei, die, von Einzelheiten der Bauform abgesehen, ihn in das Missouri seiner Kindheit zurückversetzten. Für Twain trugen die Weinrieden der Landschaft des südlichen Wienerwaldes ,den wiederbelebenden Wein der Vergangenheit'."

Man hat ihm vorgeschwärmt, welch wunderbares Panorama sich vom Julienturm auf dem Höllenstein biete. Stramm marschiert er hinauf. Leider an einem bewölkten Tag. Von der Warte späht der Wanderer in dichte Luftschleier. Resignierend meint er: "I viewed the mist and missed the view", sinngemäß: Vor mir Nebel, keine Aussichten auf die Aussicht.

Der Sommer und der Frühherbst 1898 bringen überhaupt viel Regen und Abkühlung. Darum bleibt unser berühmter Gast oft zu Hause, am Schreibtisch. Er arbeitet an "Early Days", einem Teil seiner Autobiografie, Prosa, in der er impressionistisch Erinnerungen an das Leben auf der Farm seines Onkels heraufbeschwört.

Im Grundton findet der Kenner Carl Dolmetsch Ähnlichkeiten mit dem Stil von Twains Landsmann und Zeitgenossen, dem großen Barden Walt Whitman. Etwa in dem Satz: "Ich erinnere mich an die Prärie, ihre Einsamkeit und ihren Frieden, und an einen gewaltigen Falken, der regungslos im Himmel schwebte, seine Schwingen weit gebreitet und das blaue Gewölbe schimmerte durch die Spitzen seiner Fittiche." Ganz so könnte, nebenbei gesagt, auch ein anderer Zeitgenosse Twains, der hier unbekannte englische poetische "naturalist" Richard Jefferies, geschrieben haben.

Daneben entsteht in Kaltenleutgeben literarische Akzidenz, vom Verfasser als "Honorarware" eingestuft. Aber unter den Manuskripten ist auch ein großer Wurf seines erzählerischen Werks, "The Man That Corrupted Hadleyburg", eine Parabel der Habgier und Skrupellosigkeit. Anderes gehört bereits der Spätphase seines Schaffens an, ist Ergebnis langer Reifungsprozesse und schöpferischer Schübe. In "What is Man?" und "The Chronicle of Young Satan" schweift der Humorist, der Satiriker auf philosophische und religiöse Gebiete ab. Witz, der aus tiefer Skepsis kommt, steigert sich in manchen Aphorismen bis zur Schärfe des Misanthropischen, sehr beredsam bewegt sich unser berühmter Gast durch eine Gedankenwelt, in der sich damals etwa George Bernard Shaw pointierter zurechtfindet.

Es hat den Anschein, daß der Autor manchmal unter dem Selbstzwang steht, seinem immer und überall kolportierten Bild des unerschöpflich phantasievollen Geschichtenerzählers und Ausdenkers kurioser Begebenheiten erneut möglichst konturengenau zu entsprechen. Ist das Dictum "Humorgreis" des streitbaren Fackelträgers Kraus doch nicht zu gehässig gewählt? Aus der Zeit um 1900 gibt es eine köstlich-weise Kurzgeschichte über solche Probleme, auch von einem Amerikaner, Frank Stockton, er schildert, was einem Schriftsteller alles widerfährt, wenn dieser die eigene Höchstmarke nicht wieder erreicht.

Die Kaltenleutgebener Landschaft selbst und die Akteure des Kurbetriebs bieten Twain keine Motive für direkte literarische Umsetzung. Im Oktober übersiedelt die Familie wieder nach Wien, in das damals hypermoderne Hotel Krantz am Neuen Markt. Dort wurde Twain bereits im September Augenzeuge des Trauergepränges für Kaiserin Elisabeth, das er amerikanischen Zeitungslesern ausführlich beschrieb.

Gefeiert und umworben wie je, zuletzt sogar durch eine Privataudienz bei Kaiser Franz Joseph geehrt, nimmt er im Mai 1899 Abschied von Wien, um mit den Seinen nach England zu reisen. "Auf Wiedersehen!" ruft er aus dem Waggonfenster. Eine Hoffnung, die sich nicht erfüllt.

Die Villa Paul-Hof existiert noch, charakteristisch für den einstigen Landhausbau in der Umgebung der Hauptstadt, von den jetzigen Besitzern voll Verständnis und sorgfältig restauriert. Zudem ist in Kaltenleutgeben ein geeichter Twainianer ansässig, der Theaterhistoriker Peter Nics. Er sorgte dafür, daß an der Gartenmauer eine Gedenktafel angebracht wurde. Als Markierung jenes Weges, der vom unendlich breiten Mississippi bis zu der so schmalspurigen, schauderhaft kalten Dürren Liesing führte.

Mark Twain in Österreich ist Thema des Buches "Unser berühmter Gast" von Carl Dolmetsch, aus dem Englischen übersetzt von Gunther Martin, erschienen in der Edition Atelier, Wien.

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