Feines Schweigen und feiges Schweigen

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Fritz Stern, Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels, über die allgegenwärtige Feigheit.

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Fritz Stern, Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels, über die allgegenwärtige Feigheit.

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In "Jenseits von Gut und Böse" fragte sich Friedrich Nietzsche, wie eigentlich Goethe über die Deutschen gedacht habe. Seine Antwort: "Er hat über viele Dinge um sich herum nie deutlich geredet und verstand sich zeitlebens auf das feine Schweigen." Was ist das feine Schweigen? Dieser Frage geht Fritz Stern, Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels 1999, in seinem neuesten Buch nach. Und auch den Gefahren allzu vornehmer Zurückhaltung, die in Wegschauen, Feigheit, letztlich Komplizenschaft münden. Wer kennt nicht Situationen, in denen es geboten schiene, den Mund aufzutun, und keiner tut es, aus Angst um den Arbeitsplatz, aus Sorge, für seine Aufrichtigkeit bestraft zu werden?

Da wird ohne die übliche Ausschreibung die Geliebte des Chefs in eine leitende Position gehievt. Alle wissen, daß es im Betrieb fähigere Kräfte gäbe. Zorn und Empörung kochen hinter verschlossenen Türen, doch niemand wagt es, auf die Korruption hinzuweisen, sie zu bekämpfen. Da schämt sich ein ehemaliger Politiker nicht, einen hoch dotierten Posten in der staatlich beeinflußten Wirtschaft anzunehmen, wohl wissend, daß er damit einen Qualifizierteren verdrängt. Und alle schweigen.

Fritz Stern zeigt in fünf Essays, wie gefährlich das Schweigen für die ganze Gesellschaft ist. Der in den USA lebende Gelehrte stammt aus deutsch-jüdischem Haus und mußte Deutschland 1938 mit seinen Eltern verlassen. Seine Familie hatte über Generationen zum deutschen Geistesleben beigetragen. Stern machte es sich zur Lebensaufgabe, die deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts zu erforschen. In allen Büchern lehnt er die These ab, der die heutige Geschichtswissenschaft so unkritisch huldigt, Geschichte sei das Ergebnis anonymer Kräfte. Stern hält dagegen: "Es ist seltsam, daß unser Jahrhundert, in dem die Macht von Individuen, Geschichte zu gestalten, auf so erschreckende Weise vor Augen geführt worden ist, auch das Jahrhundert war, in dem Historiker die Rolle des Individuums als eher unbedeutend einschätzten." Im ersten Essay, "Das feine Schweigen", zeichnet er die Leistungen des großen Schweizer Historikers Jacob Burckhardt nach. Ohne die heutige Zunft direkt zu nennen, zitiert er einen Vorsatz Burckhardts, dem auch Stern vorbildlich gerecht wird: "Ein Gelübde habe ich mir gethan; mein Lebenlang einen lesbaren Styl schreiben zu wollen, und überhaupt mehr auf das Interessante als auf trockene faktische Vollständigkeit auszugehen." Was er bei Burckhardt hervorhebt, gilt gleichermaßen für ihn selbst: Er hat Phantasie und Gespür. Und wenn er über Burckhardts Sorge am Ende des 19. Jahrhunderts bezüglich des geistigen Lebens in Deutschland spricht, schwingt seine Sorge am Ende des 20. Jahrhunderts mit.

Geistesverödung durch technischen Fortschritt: Stern zeigt am Beispiel Jacob Burckhardts, wie wenig neu die heutige Sorge ist. Beklagte Burckhardt vor 100 Jahren "Hatz und Eile", blickte er 1900 in die Geschichte zurück und fand Ende des 18. Jahrhunderts alles "stetiger und einfacher", so ist Sterns Fazit heute: "Das Spezialistentum ist noch mehr gewachsen, und die meisten Historiker haben sich vom großen Publikum abgewendet, wie das Publikum von der Geschichte."

Wie leicht das "feine Schweigen" in eine persönliche Tragödie münden kann, zeigt der Historiker an einem Porträt des großen deutschen Physikers Max Planck: Er bringt ihm Bewunderung für seine menschliche Größe entgegen, verschweigt aber nicht, wie Max Planck, 1859 geboren, seinen menschlichen Anstand in den Verstrickungen zweier Weltkriege stets bewahrte, sich aber im öffentlichen Leben schwer tat, Unrecht auch öffentlich zu benennen.

Die Wahrheit ist in jedem Krieg das erste Opfer. In zwei eindringlichen Abhandlungen zeigt Stern, wie die beiden Weltkriege das Lügen hoffähig machten. Die geistigen Führer des Jahres 1989, Vaclav Havel und viele andere, die sich der erzwungenen Verlogenheit in ihren Staaten nicht beugten und dafür ins Gefängnis gingen, forderten daher als Erstes ein Leben in Wahrheit, ein Ende des ausweichenden Denkens. So sieht Stern im Jahr 1989 "das Ende einer Ära in der europäischen Geschichte, die von beispielloser Gewalttätigkeit und Unwahrheit gekennzeichnet war. Der Erste Weltkrieg erlebte die Perfektionierung lügnerischer Propaganda, und er schuf die Voraussetzungen, unter denen sich die totalitären Regimes zu etablieren vermochten, unter denen sie alle Machtmittel einsetzen konnten, um die Wahrheit zu kontrollieren und zu verzerren, um Gewalt zu predigen, damit sie praktiziert wurde. Ich glaube, daß diese Kette von Gewalt und Unwahrheit 1989 zerrissen wurde."

"Der Historiker als moralische Instanz: Zu gut weiß der heute 73-Jährige, wieviele seiner Kollegen diesem Anspruch nicht gerecht wurden. Der Nationalsozialismus und der Kommunismus verlangten und bekamen von Historikern die geforderte parteiliche Wahrheit. Stern kennt auch die zweite Krankheit von Historikern, die Bekenntnisfeigheit. Geschichtswissenschaft ist mehr als das Katalogisieren von Fakten. Urteilsfähigkeit und Mut zur Wertung setzen freilich eine Werteskala voraus. Stern besitzt sie. Sie heißt Humanität.

Das feine Schweigen. Historische Essays. Von Fritz Stern C.H. Beck Verlag, München, 1999, geb. 188 Seiten, geb., öS 248.-/e 18,02

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