wolf - © Foto: © CSU Archives / Everett Collection

Virginia Woolf: Feinste Stimmungen, wie Wellen

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Das Leben in Momentaufnahmen, in Gedanken und Gefühlszuständen zu beschreiben, war ihr literarisches Konzept. Virginia Woolf, rastlose Schriftstellerin und begnadete Essayistin, nahm sich vor 75 Jahren das Leben. Sie hinterließ Meisterwerke der Weltliteratur.

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Das Leben in Momentaufnahmen, in Gedanken und Gefühlszuständen zu beschreiben, war ihr literarisches Konzept. Virginia Woolf, rastlose Schriftstellerin und begnadete Essayistin, nahm sich vor 75 Jahren das Leben. Sie hinterließ Meisterwerke der Weltliteratur.

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Es ist nur ein kurzer Fußmarsch von Virginia Woolfs Cottage, Monks House, im malerischen Sussex nahe Rodmell gelegen, bis zum Fluss Ouse. Von dem kleinen Haus, das als Museum erhalten ist und immer noch seinen liebevoll gepflegten Garten hat, in dem Woolfs Asche von ihrem Ehemann Leonard unter den Ulmen verstreut wurde, geht es über Feldwege und Schafweiden zur Ouse, die an dieser Stelle auf ihrem Weg in den Ärmelkanal mehr einem unscheinbaren Bach gleicht als einem Fluss. Dass sie sich hier am 28. März 1941 mit steinbeschwerten Manteltaschen ertränkte, ist kaum vorstellbar. Es ist ein kühler Spätsommertag und es regnet in Strömen beim Besuch von Virginia Woolfs letztem Wohnort. Die Ulmen stehen nicht mehr, aber immerhin gibt es noch eine Büste mit Grabtafel.

Dieses in vielerlei Hinsicht tragische Leben verleitet zur romantischen Verklärung. Wahnsinnige, Genie, Missbrauchsopfer, Selbstmörderin: Wir lesen historische Persönlichkeiten, als wären sie Bücher. Wir interpretieren und gewichten. Virginia Woolf selbst haderte mit dem Biografischen. Ihre Arbeit an der Biografie ihres Bloomsbury-Freundes, des Malers Roger Fry, war für sie eine Qual. Das Leben eines Menschen in Worte zu fassen, hielt sie für eine unzulässige Verkürzung. Ausgerechnet sie, die Tochter Sir Leslie Stephens, der als Herausgeber des berühmten "Dictionary of National Biography" sein Lebenswerk der biografischen Arbeit widmete. Seine jüngste Tochter befand die Fiktionalisierung als wahrhaftiger als die sogenannte Wahrheit. Ihr bekanntester Roman "Orlando" ist die erfundene Biografie eines jungen Adeligen, der, ohne zu altern, Jahrhunderte durchlebt und zur Mitte des Textes sein Geschlecht wechselt. In der Figur des Orlando porträtierte Woolf ihre Geliebte, die mondäne Schriftstellerin Vita Sackville-West.

In "Flush: A Biography" tätigt sie den Kunstgriff, die Lebensgeschichte Elizabeth Barrett Brownings verkleidet in der Biografie ihres Cockerspaniels Flush zu erzählen. Woolfs eigenes Leben ist bis ins kleinste Detail dokumentiert. Sie selbst tat es in ihren detaillierten Tagebuchaufzeichnungen. Ihre Briefe und Tagebücher sind mehr als Lebenszeugnisse, es sind literarische Meisterwerke für sich, die sich durch Woolfs scharfe Beobachtungsgabe und ihren trockenen Humor auszeichnen. Zum Teil bitterböse kommentierte sie die Welt um sich herum.

Seltsame Lücke

"In ihr verlor die Welt eines ihrer seltensten Güter; ein weibliches Genie. Ein Genie freilich, das nicht aus dem Dunkel stammte, sondern aus Herkunft und Umgebung beinahe errechenbar war", würdigt Hilde Spiel Woolf 1981. Virginia Stephen wurde 1882 in eine gehobene bürgerliche Familie mit drei Geschwistern und zahlreichen Halbgeschwistern geboren. Hervor taten sich ausgerechnet Virginia und ihre Schwester Vanessa, denen im Gegensatz zu ihren Brüdern Schulbildung und Studium verwehrt blieben. Vanessa Bell wurde eine bekannte Malerin, die auch ihre noch berühmtere Schwester vielfach porträtierte. Doch die bürgerliche Fassade von Hyde Park Gate 22 birgt Beklemmendes. Nach dem frühen Tod von Mutter Julia und Halbschwester Stella bleiben ihre Geschwister mit dem missmutigen und überforderten Vater zurück. Laura, Leslie Stephens Tochter aus erster Ehe, war in einer Anstalt für Geisteskranke untergebracht. Eine seltsam beschwiegene Lücke in diesem Familiengefüge. Vanessa und Virginia sprechen von sexuellen Übergriffen durch ihre älteren Halbbrüder. Zu sagen, Virginia flüchtete sich ins Schreiben, wäre wieder einer dieser interpretatorischen Akte, die sie selbst verabscheute. Selbiges trifft auf ihren Wahnsinn zu. Eine Heerschar an Biografen versucht jedes Symptom zu vermessen und zu kartographieren, um ihr nur ja eine Diagnose angedeihen zu lassen.

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