Feuchtersleben und die Kirche

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Der Selbsterzieher wurde 1848 zum Schulreformer: Wie ein moderater Reformer schließlich zwischen allen Stühlen landete.

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Der Selbsterzieher wurde 1848 zum Schulreformer: Wie ein moderater Reformer schließlich zwischen allen Stühlen landete.

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Als der 42jährige Ernst Freiherr von Feuchtersleben am 16. Juli 1848 die Leitung des Unterrichtsministeriums ablehnte, um am 18. Juli als Unterstaatssekretär in diesem Ministerium maßgeblich an der Reform des Unterrichtswesens mitzuwirken, war sein Lebenswerk als Dichterarzt vollendet. 1836 waren seine Gedichte veröffentlicht worden, bis heute lebendig blieb nur das von Mendelssohn-Bartholdy vertonte, als Grablied gebräuchliche Jugendgedicht "Es ist bestimmt in Gottes Rath". Bekannter wurde er durch die 1838 erschienene "Diätetik der Seele", die im 19. Jahrhundert 46 Auflagen erlebte. Mit dem ins Englische, Französische, Holländische und Russische übersetzten "Lehrbuch der ärztlichen Seelenkunde" (1845) wurde er zum "Pionier der Psychosomatik" und, so Viktor Frankl, auch zum Vorläufer der Psychotherapie.

Den Ruf des Reformers erwarb sich Feuchtersleben als Dekan der medizinischen Fakultät und Vizedirektor der medizinischen Studien schon ab 1845. Er wäre nach dem Urteil Grillparzers "für ruhige Zeiten der bestgedenkbare Unterrichtsminister gewesen", glaubte aber, sich als Unterstaatssekretär "frei von den politischen Beziehungen des Gesammtministeriums rein seiner innern Thätigkeit widmen zu können", was sich bald als Fehleinschätzung erwies, denn von ruhigen Zeiten konnte zwischen Juli und Oktober 1848 keine Rede sein.

Feuchtersleben hatte es auch als Unterstaatssekretär mit den widerspruchsvollsten Plänen und Wünschen zu tun, wie ein Korrespondent der "Allgemeinen Zeitung" schon am 11. Juli 1848 schrieb: "Das Ministerium des Cultus soll neue Studienpläne schaffen, die Elementarschulen, welche namentlich in den Provinzen nur auf dem Papier bestanden, oder die nur von Pfaffen geleitet wurden, einrichten oder reformieren, es soll an einem Ende die Aufhebung des Cölibats, am anderen die fernere Verbindung mit Rom befürworten, es soll die Hochschulen mit Beistimmung und Genehmigung der Studenten auf den neuen Fuß der Zeit stellen und die jungen Herren ihre Professoren wählen lassen."

Feuchterslebens Verhältnis zur katholischen Kirche wurde in seiner Theresianistenzeit vorgeprägt. Wegen seiner schwächlichen Konstitution wurde der am 29. April 1806 in Wien Geborene, der mit einem Jahr die Mutter verlor, einer Amme anvertraut und aufs Land geschickt. Noch vor Vollendung des siebenten Lebensjahres wurde er Zögling der Theresianischen Akademie, wo er nach eigenem Zeugnis etwa in seinem "fünfzehnten Lebensjahre ernst über die Religion" nachzudenken begann, wobei, "besonders in kränklichem Zustande viel Katholicismus" in seinem "Gemüthe war", er sich aber auch mit dem Luthertum und dem Calvinismus auseinandersetzte und in der Suche nach sich selbst in Rom und Griechenland seine Heimat fand. Hebbel berichtet, daß "sein Geschichtslehrer, Pater Bonifazius, ein Mann von Feuer und Geist, bedeutenden Einfluß auf ihn" hatte. Weniger positiv sah Feuchtersleben selbst in den zwölf Jahren im Theresianum den strengen Tagesablauf, der mit der Heiligen Messe begann und mit dem Abendgebet endete. Wenn er dieses Erziehungssystem bei aller Anerkennung der "reichen Gelegenheit zur Ausbildung" rückblickend als "ganz verfehlt" beurteilte, so nicht zuletzt deshalb, weil alle Tage in die Kirche gegangen wurde, öfters dreimal des Tags, oft zweimal, "und so alle Religiosität erstickt wurde".

Schon im Theresianum wurde Feuchtersleben zum Selbsterzieher mit asketischen Zügen, der Nächte statt im Bett auf der nackten Erde verbrachte, Lieblingsspeisen unberührt ließ und Einladungen ins väterliche Haus, wo seine Amme inzwischen dem Vater heimlich angetraut worden war, unter allerlei Vorwänden ausschlug. "Echte Tugend und wahres Wohlsein gründet sich auf Leitung durch sich selbst", war eine schon in dieser Zeit gewonnene Erfahrung, die in einem Widmungsexemplar seiner "Diätetik der Seele" folgenden Ausdruck fand: "Zwei kleine Verse schließen Die ganze Lehre ein: ,Entsag' - um zu genießen, Vergiß dich - um zu sein!"

Wenn Feuchtersleben im Revolutionsjahr 1848 als Liberaler galt, so ganz gewiß nicht als einer, der sich und anderen keine Grenzen setzen wollte. War er doch der Meinung, alle bisherigen Umwälzungen hätten gelehrt, "daß die Herrscher das Herrschen und die Beherrschten das Sichbeherrschen nicht verstanden". Auch die erste Rede als Unterstaatssekretär, in der er die Studenten aufforderte, gemeinsam mit ihm die Aufgabe der Universitätsreform zu lösen, schloß er mit den Worten: "Ganz Europa richtet seine Blicke auf uns und erwartet den Beweis, daß wir der Freiheit, die wir errungen haben, würdig sind."

Zu seinen Weichenstellungen gehörte die "Theilnahme des Staates an dem Volksschulunterrichte" und die "Befreiung der Schule von der Bevormundung durch die Kirche (ohne Ausschließung des Klerus vom Unterrichte)". Ein erster Schritt war die innerhalb weniger Wochen erfolgte Aufhebung der Konvikte zu Prag, Graz, des Innsbrucker Theresianums, der Managettschen Stiftung, des Konviktes zu Lemberg, des Josephstädter und des Kremser sowie des Wiener Stadtkonvikts. In einem Rückblick anerkannte er zwar, daß die Jesuitenschulen neben anderen geistlichen Kollegien "die vorzüglicheren" waren und "Keime europäischer Civilisation selbst nach Amerika und Asien" verbreiteten, kritisierte aber "ein starres, verknöchertes System", "eine mönchische Disziplin" und "ein gänzliches Verkennen der Aufgaben der freien Gesellschaft".

Der 6. Oktober 1848, der Tag des Mordes an Kriegsminister Latour, setzte Feuchterslebens Wirken ein jähes Ende. Dazu hatte auch die Gleichberechtigung aller Nationen der Monarchie beim Unterricht in der Muttersprache von der Volksschule bis zur Universität gehört, die Verbesserung der Lehrerbildung, der Übergang vom Klassen- zum Fachlehrersystem in den Gymnasien und ein höherer Stellenwert der Naturgeschichte. Die größten Widerstände rief seine Aufhebung des niederen chirurgischen Studiums im Rahmen der Vereinheitlichung der akademischen Medizinerausbildung hervor, zum Verhängnis wurde ihm die eigenmächtige vorzeitige Pensionierung von fünf Professoren der medizinischen Fakultät.

Nach dem Latour-Mord bat Feuchtersleben um Beurlaubung und verließ, wie die meisten Minister und 20.000 Wiener, die umkämpfte Stadt. Aus Aussee reichte er am 22. Oktober das formelle Entlassungsgesuch ein. Als er Ende 1848 wieder nach Wien zurückkehrte, protestierte der gesamte Lehrkörper der medizinischen Fakultät gegen seine Wiedereinsetzung als Vizedirektor der medizinischen Studien. Auch blieb es ihm verwehrt, wieder Vorlesungen über Seelenheilkunde zu halten.

Ein organisches Leiden sowie die erlittene Kränkung unterwarfen ihn nach Hebbel der "furchtbarsten aller Charakterproben", nämlich, "den Tod vier Monate vorher heranschleichen zu sehen". Am 11. August 1849 erhielt er die letzte Ölung. Der Priester wußte zunächst nicht, ob er es mit einem Sterbenden oder einem Toten zu tun hatte, doch das Sterbeglöcklein, das er über ihn läuten ließ, läutete verfrüht. Er starb erst am 3. September. Nicht ganz zu Unrecht diagnostizierte Grillparzer: "Er ist vom Geiste aus gestorben."

Was Feuchtersleben, als er noch bei klarem Bewußtsein war, erhoffte, ist mit den Worten überliefert: "Ich gehe fort, auf einen Stern, einen helleren." In seiner "Ärztlichen Seelenkunde" spricht er von "der Sonne, die Abends nur unserm Auge untergeht, aber immer da ist ..."

Eine Biographie über Feuchtersleben als "Pionier der Psychosomatik" von Karl Pisa erscheint im Herbst dieses Jahres im Böhlau-Verlag.

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