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BEISPIEL EINES MONUMENTALFILMS

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Krieg und Frieden” (Wojna i Mir) von Graf Leo Niko- lajewitsch Tolstoi (1828 bis 1910) — der aristokratische Titel wird selbstverständlich in allen aus dem Osten stammenden Publikationen und Verfilmungen fortgelassen — gilt als eines der Hauptwerke der Weltliteratur, als „Pflicht- Klassiker” im Unterricht und darüber hinaus sogar noch — erstaunlicherweise, ist man bei dem umfangreichen Buch geneigt zu sagen — als „Bestseller” auf dem Büchermarkt. Insgesamt dreimal wurde der monumentale zeitgeschichtliche Roman bisher verfilmt, in Rußland zum erstenmal 1915 von Vladimir Gardin und Jakow Protasanow als zehnaktiges Filmdr.ama, im selben Jahr nochmals unter dem Titel „Na- tascha Rostowa” von Pjotr Tschardinin (1600 m), mit dem berühmten Darsteller Iwan Mosjukin in einer der Hauptrollen, und schließlich 1956 als italienisch-amerikanische Koproduktion in Farben und VistaVision mit einer Vorführzeit von 208 Minuten. Der in Jugoslawien gedrehte, mit überdurchschnittlichem Niveau von King Vidor inszenierte Großfilm mit der damals noch gewaltigen internationalen Starbesetzung Audrey Hepbum, Henry Fondą, Mel Ferrer, Vit- torio Gassman, John Mills, Anita Ekberg, Oskar Homolka und Herbert Lom (als Napoleon) fand auch bei der Kritik Anerkennung und (gemäßigten) Beifall.

Die Sowjetunion, deren Ehrgeiz es ist, nicht nur in der Kosmonautik den Westen und alle anderen Staaten zu übertreffen, ließ dieser Ruhm nicht schlafen; in ihrem drängenden Bedürfnis, der staunenden Umwelt zu beweisen, daß auch auf dem Gebiet der Filmindustrie (oder Filmkunst?) die sowjetische unüberbietbar sei — und vielleicht auch aus einem gewissen Gefühl der Gekränktheit heraus, daß gerade die Amerikaner das russische Nationalepos zuerst (und noch dazu nicht einmal so schlecht, wie es zu befürchten war) auf die Großleinwand des pseudoplastischen Panoramaeffekts übertragen hatten —, beschlossen sie, Tolstoi noch einmal, und diesmal noch originaler, noch gewaltiger und monumentaler, noch effektvoller in bewegtes Filmbild umzusetzen. Im Herbst 1963 erschien die erste, noch klein gehaltene Nachricht, daß Sergej Bondartschuk, verdienter Künstler der Sowjetunion, im Westen vornehmlich durch seine „Othello”- Interpretation in einem der besten „Tauwetterfilme” und als Regisseur der erschütternden Kriegsballade „Ein Menschenschicksal” bekannt, mit den Aufnahmen zu einer grandios geplanten vierteiligen Verfilmung von „Krieg und Frieden” begonnen hatte. Wie viele Jahre sorgfältigster Planung historischer Studien und Vorarbeiten diesem gigantischen Projekt, das an Größe alles bisher im Film Gebotene — selbst die amerikanische „Cleopatra” — übertreffen sollte, wurde nicht gesagt.

März 1964 erschien der erste Bildbericht in der in sechs Sprachen erscheinenden illustrierten Monatsschrift „Sowjetfilm” über die Arbeiten an dem Film, dazu ein Artikel — in dem, diesmal schon etwas ausführlicher, stand: „Im Herbst 1963 wiederholte sich die Schlacht bei Dorogo- busch. Sie ist jetzt abgedreht, aber die Aufnahmegruppe hat noch viel zu tun, denn die beiden ersten Teile des Filmepos sollen noch in diesem Jahr fertig werden.” Dann verging wieder eine Pause, doch bis zur Fertigstellung des Films war der Weg noch weit. Und dazwischen kamen immer wieder neue, „stolze” Meldungen vom Kriegs- und Friedensschauplatz: „Bondartschuk hat schon die Schlachten bei Austerlitz, bei Schöngraben und die grandiose Schlacht von Borodino, an der 13.000 Statisten teilnahmen, beendet. Jetzt ist er mit den Hallenaufnahmen beschäftigt, denn die Großaufnahmen des 70-Millimeter-Films werden im Atelier gedreht. Bondartschuk wirkt in dem Film auch selbst als Darsteller mit: er spielt eine der schwierigsten Rollen, den Pierre Besuchow” (August 1964). Und in einem kurz vorher stattgefundenen Interview äußerte sich der Regisseur über seine Intentionen: „Wir haben uns bemüht — und es geht uns darum, uns möglichst genau an den Roman zu halten und dem Zuschauer das große Werk Tolstois und seinen russischen Nationalgeist nahezubringen. Wir suchen nach Mitteln der Kirnst, die es uns gestatten sollen, den ganzen Roman möglichst ohne jede Einbuße auf die Bildleinwand zu bringen. Der Streifen soll ein abgerundetes Filmwerk werden, das auf der Leinwand ein zweites, selbständiges Leben erlangt. Tolstois große Menschlichkeit, sein Glaube an den Triumph des Lebens über den Tod, des Guten über das Böse, sein Traum von der Vereinigung aller Menschen guten Willens ist uns verständlich. Wie aktuell klingen die Worte des großen russischen Schriftstellers, die er Pierre in den Mund gelegt hat: .Alle folgenschweren Gedanken sind einfach. Ich denke, wenn die lasterhaften Menschen eine Gemeinschaft und Macht darstellen, so müssen die ehrlichen Menschen es nur ebenso machen. Wie einfach!” Diese Worte, die der Geisteshaltung unserer Zeitgenossen durchaus entsprechen, haben wir unserem Film als Motto vorangestellt und wollen, daß sie im Film Gestalt annehmen.” Erst im Juni 1965 ging eine neue Nachricht durch die Filmpresse: „Der erste und der zweite Teil des von einer großen Künstlergemeinschaft unter Sergej Bondartschuks Leitung begonnenen Filmepos .Krieg und Frieden” sind fertiggestellt…” Und als große Überraschung wurde die vierstündige erste Hälfte des Monumentalwerkes als sowjetischer Hauptbeitrag bei den diesjährigen Internationalen Filmfestspielen in Moskau uraufgeführt (und ebenfalls zwei Monate später als repräsentativer Beitrag der UdSSR — allerdings außer Konkurrenz — bei der Filmkunstschau in Venedig gezeigt), wo er selbstverständlich mit dem Hauptpreis dekoriert, als Festivalsieger hervorging. Doch das internationale Echo war sehr zwiespältig…

Während Peter Ustinov, Englands Allroundgenie, Drehbuch- und Stückeschreiber, Schauspieler und Regisseur, den Film als das „Größte” bezeichnete, was „seit der Erfindung der Kinematographie auf diesem Gebiet je entstanden ist” (wobei Ustinov eine gewisse Ironie durchaus zuzutrauen wäre), sagte Italiens Seelenproblemgestalter Michelangelo Antonioni nach der erschöpfenden Vorführung: „Der Film vertritt genau jene überalteten Prinzipien, die wir im italienischen Neoverismo und seiner weiteren Entwicklung seit zwanzig Jahren bekämpfen!” Und die deutsche „Filmkritik” nannte das Werk „eine glatte Enttäuschung”: „Hier feiert der konventionelle, episch-monumentale, in der romantisierenden Ausmalung von Details schwelgende sowjetische Filmstil von gestern Auferstehung. Bondartschuks Hang zur dekorativen Entfaltung von Schlachtenpanoramen und farbigen Ballsaalinterieurs ist auf die annähernd vier Stunden, die die beiden ersten Teile der Verfilmung schon dauern (zwei weitere sollen noch folgen), schwer zu ertragen … Zwar gewinnen einzelne Szenen nicht zuletzt durch die ausgezeichnete Interpretation des Pierre durch Bondartschuk selbst einen relativen Grad an Überzeugungskraft; dann aber wird der Zuschauer durch unmotivierte Kameraexzesse und naive Bildmetaphern wieder aufs ärgste ernüchtert.”

Die Wahrheit liegt, wie meist, im Mittelweg. Unbedingt ist der Film zu lang. Zwei Stunden pompös-gewaltiger Krieg und ebenfalls zwei Stunden idyllisch-verinnerlichter Frieden — obwohl geschickt gegeneinander aufgewogen — auf einer Riesenleinwand in abwechselndem furioso maestoso, dann wieder dolce pianissimo serviert, erschlagen selbst den Willigsten der Zuschauer. Manche der „Kameraexzesse” sind nicht weniger eindrucksvoll wie einige der „Bildmetaphern”: die Szene — vor der Pause —, in der Napoleon dem verwundeten Fürsten Andrej auf dem Schlachtfeld begegnet und sich in dem wie sterbend daliegenden Krieger der innerliche Wandel vollzieht, wird bildhaft ebenso großartig wie bombastisch dargestellt. Andrej schlägt die Augen auf — und sieht über sich den weiten Himmel mit Wolken, zwischen denen die blaue Unendlichkeit hindurchschimmert; hier erhebt sich — gleichsam mit diesem Blick — die Kamera hoch in den Himmel (die Aufnahmen wurden von einem schnell aufsteigenden Düsenflugzeug aus gemacht), und der Zuschauer erblickt, immer höher und höher steigend, die Erde, wo die Menschen und das Schlachtfeld von Austerlitz immer mehr zu einem nichtigen Detail zusammenschrumpfen… Oder die bildhaft wunderschön komponierte, dennoch kaum erträgliche lange Szene der Ausfahrt Andrejs im zweiten Teil, in der die Natur die psychologische Analyse des Innenlebens des Helden (von einem Gedankenmonolog begleitet) vorbereitet, untermalt und symbolisiert. Hier erreichen Kamera und Montage Momente einer künstlerischen Eindringlichkeit, die ihresgleichen kaum besitzen. Wieweit Tolstois Gedankengut zum Ausdruck kommt, ist vom Dialog her jedoch wohl erst in einer deutschen Fassung beurteilbar. Bildlich-szenisch hat man sich jedenfalls ziemlich getreu an das Romanwerk gehalten, wobei natürlich einige Szenen des Riesenwerkes der Straffung zum Opfer fallen mußten.

Wann wir in Wien dieses teuerste und gewaltigste Werk der russischen Filmgeschichte zu sehen bekommen, steht in den Sternen; wahrscheinlich werden wir warten müssen, bis auch der dritte und vierte Teil des Films mit der Eroberung Moskaus durch Napoleon und dem Brand der Metropole — fertiggestellt sind, was noch zumindest ein Jahr dauern wird. Nach neuen Berichten ist Bondartschuk bereits wieder fleißig an der Arbeit, den Monsterfilm zu vollenden. — Vielleicht wird man ihn im Westen nie in seiner ganzen „Monumentalität” genießen können; es bestehen bereits Mutmaßungen und unbestätigte Gerüchte, wonach man alle vier Teile in einen etwas über dreistündigen Film zusammenfassen will, der dann im Ausland einen querschnittartigen Kurzeindruck des Riesenwerkes vermitteln soll, etwa: „Das Beste aus .Krieg und Frieden1…”

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