Surviving Gusen - © Foto: Bright Films

„Crossing Europe“: Ein geteiltes Schicksal

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Im letzten Jahr der Intendanz von Christine Dollhofer präsentiert sich „Crossing Europe“ als „volljährig“. Auch das Linzer Filmfestival zeigt sich Pandemie-beeinfusst – inhaltlich wie organisatorisch.

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Im letzten Jahr der Intendanz von Christine Dollhofer präsentiert sich „Crossing Europe“ als „volljährig“. Auch das Linzer Filmfestival zeigt sich Pandemie-beeinfusst – inhaltlich wie organisatorisch.

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In manchen Belangen ist die Festivalwelt gerade eine verkehrte. Vielleicht fehlt einem jetzt sogar die vertraute und gefürchtete Bitte der Saalregie, die Vorstellung sei ausverkauft, man möge zusammenrücken und keine Plätze frei lassen. Das muss sich aber erst bei Crossing Europe herausstellen. Bis Sonntag feiert die Schau in Linz die Rückkehr der Kultur zur Präsenzveranstaltung und lotet die aktuelle Beziehung zwischen Großevent und Publikum aus.

Vergangenes Jahr abgesagt bzw. in kondensierter Form im Herbst nachgeholt, sorgte der Lockdown heuer für eine VerHubert Sauper, in Frankreich lebender österreichischer Dokumentarfilmer, gehört zu den international Erfolgreichen seines Genres: „Darwin‘s Nightmare“, (2004) sein Öko-Gruselfilm über die Katastrophe, die der Victoriabarsch im Ökosystem des Victoriasees in Ostafrika anrichtete, schrammte knapp am Dokumentarfilm-Oscar vorbei und errang jedenfalls den EuropäischenFilmpreis. Seine zehn Jahre später gedrehte Kleinflugzeug-Expedition in den Süd-Sudan kurz vor der Unabhängigkeit „We Come as Friends“ wurde beim Sundance Festival mit dem Preis der Jury prämiert. Diese Filme zeichneten sich durch drastische Plakativität aus: Was der Kolonialismus der weißen Männer in Afrika anrichtet, war Thema, Differenzierung und Zwischentöne wurden nicht gebraucht oder waren nicht erwünscht. So blieb ein Mix aus Betroffenheit und dem Gefühl, politisch anagitiert zu werden. Die politische Botschaft von Saupers neuem Dokumentarfilm scheint eine ähnliche Anmutung zu versprechen: In „Epicentro“ nimmt sich der Dokumentarfilmer der lateinamerikanischen Insel Kuba an und blickt auf sie wenige Jahre nach Fidel Castros Tod, aber weiter unter der Herrschaft der einstigen Revoultionäre. Der Titel leitet sich aus der These des Films ab, dass die kubanische Revolution das Epizentrum des Endes von Sklaverei, Kolonialismus und Globalisierung der Macht darstellte. Also wieder eine Schwarzweißmalerei? schiebung vom Termin Ende April auf 1. bis 6. Juni – unmittelbar vor die aus dem März verlegte Diagonale. Dieses geteilte Schicksal sorgte zwischen Graz, Linz und mit den Vienna Shorts auch Wien für eine Kooperation über das Normale hinaus: Bei Programmüberschneidungen etwa wird das für Festivals begehrte Siegel der Premiere geteilt – so bei Norbert Pfaffenbichlers moderner Chaplin-Interpretation „2551.01“ oder „Motorcity“, mit dem Arthur Summereder der Stadt Detroit und der dortigen Drag-Race-Szene ein Denkmal setzt.

Für Festivalleiterin Christine Dollhofer ist es die Synergie mit einer alten Wirkungsstätte: 1998 bis 2003 war sie Intendantin der Diagonale. Unter dem Aufschrei der Branche wurde sie von der damaligen Der Ausgangspunkt jedenfalls ist plausibel. 1898 begann mit dem Spanisch-amerikanischen Krieg der US-Imperialismus, die erste US-Flagge außerhalb der USA wurde da auf Kuba gehisst. In diesem Krieg wurde vor Havanna das US-Schiff Maine versenkt – und in jenem Jahr begann auch die Weltrevolution der Bilder durch das Kino. schwarz-blauen Regierung nicht wiederbestellt, um stattdessen aus Linz das Angebot zu erhalten, ein Festival aus der Taufe zu heben. Dessen 18. Ausgabe ist nun ihre letzte: Im Herbst übernimmt Dollhofer die Geschäftsführung des Filmfonds Wien, ebenfalls dann wird über ihre Nachfolge entschieden.

Natürlich ist das Festival, das sie mit ihrem Team zusammengestellt hat, heuer von Corona geprägt. Unter dem Prinzip der Entzerrung stehen weniger Programme mit längeren Pausen dazwischen am Plan; zwar an einem Spielort mehr, aber mit nur 67 Prozent Sitzplatzkapazität im Vergleich zu 2019. Sperrstunden-bedingt gibt es weder Nachtvorstellungen noch Nightline, und auch in anderen Punkten mussten imDiese historischen Ereignisse nimmt Sauper zum Ausgangspunkt, um durch Kuba zu fahren und Menschen über ihre Sicht auf die revolutionäre Geschichte und die Zukunft zu befragen. Ein Panorama zwischen Morbidität und leiser Zukunftshoffnung, in der auch die „neueren“ Player wie die Touristen, die das Land ob ihrer Devisen gern sieht, kritisch unter die Lupe genommen werden. Immer wieder lässt Sauper die Kinder Kubas auf seiner filmische Reise zu Wort kommen. Und er nimmt das Land über dessen – vergessene wie reale – Utopien in den Blick: Auf diese Weise entkommt er der Gefahr des politischen Holzhammers und nähert sich dem karibischen Inselstaat auf eine melancholische wie ironische Weise: Er habe bei „Epicentro“ versucht, die kubanische Gesellschaft als Fallstudie zwischen Utopie und Dystopie in den Blick zu nehmen, sagt Sauper über seinen Film. Das ist ihm durchaus gelungen. Beim Sundance Festival wurde „Epicentro“ mit dem großen Dokumentarfilmpreis ausgezeichnet , und auf der Viennale 2020 gab es den Winer Filmpreis. Ein halbes Jahr und einige Lockdowns später kann dieser leichte und reife Film nun auch in die heimischen Kinos kommen. Und – natürlich: Auch im Programm der Diagonale ist „Epicentro“ zu finden. (Otto Friedrich) Epicentro A/F 2020. Regie: Hubert Sauper. Stadtkino. 108 Min. mer wieder Alternativen gesucht werden. Eine Alternative etwa, die auch andernorts Zugang ermöglichen soll, ist eine Auswahl von zehn Filmen, die im Anschluss an das Festival einen Monat lang via Streaming abrufbar ist. In seinem Programm spiegelt Crossing Europe ebenso die Situation des Filmschaffens wider, das abgesehen von Online-Auswegen mit der Auswertung seiner Werke oft zum Warten gezwungen war.

Dazu gehört „Éden“, der schon 2020 auf dem Programm gestanden hätte, und für Dollhofer „im Nachhinein ein Corona-Zitat“ darstellt. Die Ungarin Ágnes Kocsis erzählt darin von einer Frau, die sich nur im Raumanzug aus ihrer Wohnung wagen kann. Sind es die Stoffe in der Luft, die sie umbringen würden, oder das moderne großstädtische Leben? Ausdrücklich um eine Pandemie geht es in „Apples“, wo Christos Nikou, einst Regieassistent von Yorgos Lanthimos („Dogtooth“), dessen eigenwilligen Humor fortführt, wenn er den Weg der Betroffenen zurück in die Normalität sucht.

Selbst unter die Lehrer(innen) gehen

Den überwiegenden Teil des Programms nehmen aber Themen ein, die brennen, auch wenn sie derzeit überschattet sind, allen voran Flucht und Migration. „Les mots de Taj“ geht den Weg in umgekehrte Richtung, wenn Dominique Choisy seinen Adoptivsohn auf der Route zurück nach Afghanistan begleitet. Vor dem eigenen Fenster findet hierzu Thomas Imbach sein Motiv: In seiner Langzeitbeobachtung „Nemesis“ filmt und reflektiert er den Abriss des Zürcher Güterbahnhofs und Bau eines Polizei- und Gefängniszentrums. Ganz aktuell zeigt sich der Block zu kritischer Öffentlichkeit und Presse. „Courage“ z. B. zeichnet die belarussische Protestbewegung anhand einer Untergrund-Theatertruppe nach, während sich „Collective“ dem Skandal rund um den Brand in einem Bukarester Club widmet.

„Hinter den Schlagzeilen“ trifft noch näher: Daniel Sagers Dokumentarfilm erhält Zugang zum Investigativressort der Süddeutschen Zeitung, zu Recherchen an einer neuen Geschichte, die als Ibiza-Affäre berühmt werden sollte. Traurige Aktualität genießt auch „Birgitta‘s Friends“, in dem Christian Kogler den Versuch beschreibt, diametral entgegengesetzte Menschen aus Israel und den Palästinensergebieten an einem Tisch zu versammeln. Dazu gesellen sich filmische Positionen zu Zeitgeschichte, Gedenkkultur oder NS-Aufarbeitung. Weitere wichtige Themen sind Genderfragen und weibliche Selbstermächtigung, aber auch das Heranwachsen in Europa. Auf sehr persönlicher Ebene behandeln dies Vivian Bausch mit ihrer Familiensuche „Zuhause bei meinen Müttern“ und Sibylle Bauer in ihrem Essay „Was eine Familie leisten kann“.

Überhaupt wurde im Gefüge von Crossing Europe der Jugend in den letzten Jahren verstärktes Augenmerk gewidmet. Sichtbarstes Zeichen dafür ist die Schiene YAAAS!, wo relevante Diskussionsstoffe für 15- bis 20-Jährige, z. B. Missbrauch im Sport („Slalom“), mit einem umfassenden Angebot zum Erwerb von Medienkompetenz zusammen geschaltet sind. Crossing Europe, gerade volljährig geworden, ist damit also längst selbst unter die Lehrer(innen) gegangen.

www.crossingeurope.at

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