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Film in der Sackgasse?

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FÜR ZWEI WOCHEN war der Lido, einer der schönsten und mondänsten Badeorte Europas, in ein kleines Hollywood verwandelt. Man lag neben Maria Felix im Sand, badete mit Vittorio Gassman und trank an der Strandbar des Hotels Excelsior mit Rossellini eine eisgekühlte Orangeade. Jeder zweite, den man traf, war vom Film, und jeder sprach über Film. Alles andere — Politik und Tagesereignisse — existierte nicht, die Scheinwelt des Zelluloids war fünfzehn Tage lang Wirklichkeit, Leben geworden, denn einige Meter hinter dem Strand fand in einem gewaltigen Kinogebäude, das (wie könnte es in Venedig anders sein) „Palazzo del Cinema" heißt, das größte filmische Ereignis des Jahres statt: die XX. Internationale Filmkunstschau von Venedig.

Der Fachmann — Filmjournalist, Kritiker und am Film direkt Beschäftigte — weiß natürlich genau, wie alle im Jahr stattfindenden Festspiele einzuschätzen sind: Cannes ist das Festival der Eleganz, der Stars und des Geschäfts, Berlin das Schaufenster einer kämpfenden Stadt, der man durch seinen Besuch seine Solidarität zeigt, Locarno ist ein wunderschöner Ferienaufenthalt an einem romantischen Seeufer. Das Festival der Filmkunst aber ist unbestreitbar Venedig. Schon im Titel der Filmfestspiele liegt dieser Begriff verankert und ist durch viele Jahre hindurch erhärtet und bewiesen worden: nach Venedig fährt man nicht, um Geschäfte abzuwickeln, Stars zu umschwärmen und sich bei rauschenden Parties zu amüsieren, sondern um Filme zu sehen und darüber zu diskutieren, die wirklich die Auslese des Filmschaffens aller Länder darstellen.

DIE FILMKUNSTSCHAU IN VENEDIG existiert seit dem Jahre 1932, nur durch die Kriegsjahre unterbrochen. So war heuer Gelegenheit, ein Jubiläum zu feiern, das Anlaß zu höchsten Erwartungen gab: die XX. Mostra Internazionale d’Arte Cinematografica, wie der klangvolle Originaltitel lautet. Es ist jetzt die Ruhe und Muße, die Ereignisse ruhig und überlegt zu überdenken — wozu während des Mammutprogramms keine Möglichkeit war. Der Abschlußbericht zeigt, daß während der fünfzehntägigen Dauer des Festivals etwa 150 Filmstreifen liefen, die von neun Uhr früh bis ein Uhr nachts fast ununterbrochen hintereinander und auch nebeneinander in einem der vier Kinosäle des Filmpalasts den total erschöpften Journalisten vorgeführt wurden. Welch ungeheure Zahl - und was für ein Höchstmaß an Anspannung und Konzentration wurde verlangt!

DIE BIENNALE 1959 war in drei Teile gegliedert: eine retrospektive Schau (historische Rückschau), die den preisgekrönten Filmwerken der ersten Festivals in Venedig von 1932 bis 1939 gewidmet war und am Vormittag um neun Uhr begann, ferner eine informative Schau, bei der die auf den anderen Festivals dieses Jahres ausgezeichneten Filme und Werke, die in der Abendkonkurrenz nicht gezeigt werden konnten, vorgeführt wurden, und schließlich die große Abendveranstaltung, bei der vierzehn neueste Filmwerke miteinander um die Preise kämpften.

Ein Vergleich ist bei Kunstwerken allgemein nicht möglich; niemand kann sagen, dieses Bild ist „besser“ als jenes frühere Wenn hier trotzdem dieser Versuch unternommen wird, dann nur, um eine gewisse Bedeutung aufzuzeigen, die im Laufe der Venediger Filmfestspiele immer mehr zutage trat. Ob dies die Absicht der Festspielleitung war, ist nicht festzustellen Aber die Erscheinung war so deutlich, daß man es fast annehmen kann: die Ueberlegenheit der in der Retrospektive gezeigten Filme aus den dreißiger Jahren gegenüber unseren heutigen erwies sich so deutlich, daß man es als eindeutigen Sieg der Filmkunst von früher bezeichnen kann Jean Renoirs „Die große Illusion“, Marcel Carnės

„Hafen im Nebel“ und „Der Tag bricht an", Renė Clairs „A nous la libertė“ und „Gespenst auf Reisen", A. Dowschenkos „Erde“, Feyders „Die klugen Frauen“, John Fords „Der Verräter“ und Frank Capras „Es geschah in einer Nacht“ (um nur einige der durchweg bedeutenden Filme der historischen Rückschau zu nennen) kann die heutige Filmproduktion keine Werke gegenüberstellen, die dem (wie gesagt problematischen) Versuch einer Wertung annähernd standhalten könnten. Die Filmkunst traf sich also am Vormittag in den Kinosälen und leider nur wenige Journalisten nahmen die Gelegenheit wahr, sich an ihr zu erfreuen, sie zu betrauern oder kennenzulernen. Daß die Kenntnis der Geschichte die Voraussetzung zur Beurteilung eines Filmes ist, hat sich in jour-

nalistischen Kreisen noch immet n;cht genügend herumgesprochen!

AM NACHMITTAG hatte man dann Gelegenheit, die Filme zu sehen, die der versäumt hatte, der nicht in Cannes, San Sebastian oder Berlin war. Die Hauptwerke der sogenannten „Nouvelle vague" (über die viel mehr in allen Zeitungen geschrieben wird, als eigentlich wirklich dahintersteckt) wurden vorgeführt: Camus’ „Orfeu negro“, Truffauts „Die 400 Schläge“ und Resnais „Hiroshima, mon amour" sowie der ausgezeichnete polnische Widerstandsfilm „Asche und Diamant“ von Andrzei Wajda, der auch prompt mit dem Preis des internationalen Filmjournalistenverbandes ausgezeichnet wurde und Polen auch in der Abendkonkurrenz würdig vertreten hätte. (Er wurde in der „Furche" bereits ausführlich gewürdigt.) Auch das zweite Werk des jungen Regisseurs Lionel Rogosin, eine dramatische Reportage über das Leben der Neger in Südafrika, „Come back, Africa", fiel unter den etwa 40 Filmen der Informativschau auf, die sich daneben auch den neuesten Thriller von Alfred Hitchcock, „Zwischen Nord und Nordwest“, nicht entgehen ließ, was von den Besuchern dankbar hingenommen wurde (zweieinhalb Stunden Hitchcock sind immerhin stets spannend und amüsant jedenfalls nicht anstrengend!). Deutschlands Reportage über Israel, „Paradies und Feuerofen", erntete verdienten Beifall, ebenso der ausgezeichnete neueste Film von Luis Bunuel, „Nazarin“. über den schon anläßlich seiner ersten Aufführung in Cannes an dieser Stelle berichtet wurde.

NATURGEMÄSS — wenn man am Vor- und Nachmittag bereits vier oder fünf Filme gesehen hat, die weit über das Durchschnittsmaß ragen — fällt es dann nicht mehr leicht, den

Abendfilm objektiv zu betrachten und seiner Bedeutung entsprechend zu würdigen. Trotz allem: Der große Wurf fehlte. Man erlebte kein zweites „Rasho-mon“ mehr, das Venedigs Filmkunstschau 1951 fast legendären Ruhm eintrug. Die Schuld daran liegt vermutlich an der heutigen Ideenlosigkeit der Filme, deren Themen vorwiegend entweder den Krieg oder raffinierte Kriminalfälle behandeln. Von den vierzehn gezeigten Filmen beschäftigen sich sechs mit dem ersten und vier mit dem zweiten Thema in irgendeiner Form. Gewiß waren alle diese Werke rein formal gesehen interessant oder zumindest künstlerisch raffiniert gestaltet; aber die Aussage, die wohl wichtigste Aufgabe des Films in der heutigen Zeit, fehlte. Der ethische oder humanistische Wert war zugunsten der Perfektion der Technik zurückgetreten. Wenn auch etwa Rossellinis „General della Rovere“ — vor allem durch die Interpretation Vittorio de Sicas in seiner ersten tragischen Rolle - versucht, die Läuterung eines Menschen aufzuzeigen, dem durch das Leid seiner Umwelt sein Leben über ihn selbst hinauswächst und sein Leben für die ’ Werte' dčr ‘.Menschlichkeit opfert, so ist es doch letzten Endes ein Film, der nicht vollends zu überzeugen vermag. Die Voraussetzungen fehlen. Die psychologischen Hintergründe, die die Wandlung eines Charakters verständlich machen sollten, blieben gegenüber der bei Rossellini stets vorhandenen Liebe zur Episode, zum filmischen Detail, stecken. Auch der interessante Versuch des schwedischen Regisseurs Ingmar Bergman, in „Das Gesicht“ („Ansiktet") die Scharlatanerie der Wunderheilungen von Magnetiseuren und Mesmeristen zu beleuchten, blieb im Formalen stecken. Am Schluß wußte keiner der Zuschauer mehr genau, worum es eigentlich ging; war nun die Hypnose Schwindel oder Wahrheit? Ebenso verwirrt war man nach dem neuesten Werk Robert Hosseins, „Die Nacht der Spione", der eine Spionagegeschichte zwischen einem männlichen und einem weiblichen Spion während des zweiten Weltkrieges in der Form eines Ueber-Hitchcock-Thrillers erzählt; allerdings mit einem optischen Raffinement, das kaum mehr zu überbieten ist. Japans Erzählung „Enjo“ von einem jungen buddhistischen Mönch, der an dem Schmutz und dem Egoismus seiner Umwelt zerbricht und zum Brandstifter und Heiligtumschänder wird, ließ in seiner Konzeption wirkliche Ueberzeugungs- kraft vermissen und endete im trostlosen Pessimismus. Des Ex-Wieners Preminger neuestes Werk, „Anatomie eines Mordes“, ist ein wohl ausgezeichnet gestalteter Film um den Prozeß eines Mordes aus Eifersucht, der perfekte schauspielerische Leistungen bietet (wofür James Stewart mit einem Preis bedacht wurde), läßt aber jede Wärme und Aussage vermissen. Dies kann auch von allen übrigen Filmen der Abendschau gesagt werden, von denen besonders Bar- dems „Sonatas“ enttäuschte; von dem Schönfer der „Hauptstraße“ hatte man mehr erwartet als nur einen Beweis seines technischen Könnens.

SO BLEIBT DER SCHLUSS, daß die Filmkunst heute in eine Sackgasse geraten ist, aus der sie bald und schnell einen Ausweg finden tnuß. Technische Perfektion ist zwar beim Film wichtig, aber nicht alles. Der Film ist das größte Massenbeeinflussungsmittel unserer Zeit und hat als solches eine hohe Aufgabe zu erfüllen. Wenn die Verantwortlichen dies nicht mehr erkennen können, werden sie eines Tages die Früchte ernten, die heute schon al drohendes Warnzeichen die Schlagzeilen der Zeitungen bilden.

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