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FILMSYMPHONIE AN DER MOLDAU

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Wir sind auf dem Gebiet der Kinematographie immer etwas hinter den anderen westeuropäischen Ländern zurück: Bergman war schon lange berühmt, als er anfing, bei uns Aufsehen zu erregen, ebenso war es mit der „nouvelle vague”, deren wirkliche Bedeutung heute noch nicht bei uns durchgedrungen ist, die großen italienischen Regisseure der Gegenwart, Visconti, Antonioni und Rosi (Fellini bildet eine Ausnahme) zum Beispiel kennt man nur in filminteressierten Kreisen.

Was wissen wir zum Beispiel über den filmkünstlerischen Stand unseres nördlichen Nachbarlandes, der Tschechoslowakei — über den im letzten Jahr die westlichen Filmpublikationen in Deutschland, Frankreich usw. voll des Lobes waren und ihm Seiten, ja sogar ganze Sonderhefte widmeten? Mit Ausnahme einer einzigen Wiener Tageszeitung nimmt man keine Notiz davon… Wenn dann in einiger, aber absehbarer Zeit über den Weg der hiesigen Filialen deutscher und amerikanischer Verleihflrmen tschechische Filme bei uns auftauchen (und wahrscheinlich einen ebensogroßen kommerziellen Erfolg wie künstlerische Überraschung erzielen), werden wir wieder die letzten sein, „die etwas davon gewußt haben”. Und es geht hier nicht allein um ideelle Belange, sondern auch um wirtschaftliche: die Produktion, die hiesigen Verleiher sollten rechtzeitig aus dem phänomenalen Aufstieg der tschechoslowakischen Filmindustrie in den letzten zwei Jahren Schlüsse ziehen und Abschlüsse tätigen — auf dem Umweg über Deutschland wird lie die Zusammenarbeit einmal wesentlich teurer kommen!

Man könnte hier fast von einem „tschechischen Wunder” sprechen, beobachtet man mit wachen Augen und Interesse den erstaunlichen Aufschwung — sowohl in künstlerischer als auch in weltaufgeschlossener Sicht —, den der tschechoslowakische Film seit zwei Jahren erreicht hat. Seit Mitte 1963 gibt es kaum ein internationales Festival, dessen erste Preise nicht, sei es im Kurz- oder Langfllm, von einem oder mehreren Werken unseres kleinen Nachbarlandes (klein gemessen an den Hauptfilmländem wie die USA, Frankreich, England, Italien) gewonnen wurden. Und die im Vorjahr in Wien zwar hervorragend besuchte, von der Filmindustrie (auch von der Presse) aber dennoch ungenügend beachtete „Festwoche des tschechoslowakischen Films in Wien” hätte den Anlaß dazu bieten müssen, sich ernsthaft mit diesem Phänomen auseinanderzusetzen. Doch wie immer — nichts dergleichen geschah...

Der tschechoslowakische Film — zumindest bis 1945 — zeigte in der Vergangenheit entwicklungsmäßig ziemlich Parallelitäten mit dem Stand unserer heimatlichen Filmindustrie. Ähnlich wie in Österreich — war Böhmen doch ein Bestandteil der Donaumonarchie —, begann die tschechische Kinematographie ihren Siegeszug mit den Vorführungen der Gebrüder Lumiere, die nach Wien auch Prag bereisten (wo sie allerdings schon auf ihren Konkurrenten Edison stießen); der tschechische Photograph und Architekt Jan Kricenecky fuhr dann wenig später nach Paris, um von Lumiere eine Kamera zu erwerben, mit der er bereits 1898 die ersten kurzen Filmstreifen — Dokumentarszenen aus Prag und Naturaufnahmen — drehte. Und noch vor Österreich, vor dem ersten Spielfilm von Kolm und Fleck, schuf Kricenecky „Handlungsfllme” von etwa ein bis zwei Minuten Spieldauer, in denen schon Großaufnahmen vorkamen. Das Staatliche Filmarchiv der CSSR besitzt noch diese Kostbarkeiten aus der Frühgeschichte des tschechischen Films.

Platzmäßig ist hier eine detaillierte Entwicklungsschilderung des tschechischen Films nicht möglich; Interessierte mögen dies in den drei hervorragenden Büchern „II film cecoslovacco” von Ernesto G. Laura, 1960 (in Italienisch), „Historie československėho filmu v obrazech 1898—1930” von Jaroslav Broz (1959, der zweite Band ist bedauerlicherweise noch immer nicht erschienen) und „Der tschechoslowakische Film — Eine Dokumentation des Verbandes der deutschen Filmklubs” (1965) nachholen.

Nach 1945 waren es vor allem die Puppen-, Zeichen- und Trickfilme der drei Großen des tschechischen Films — Jiri Tmka, Hermina Tyrlovä und Karel Zeman —, die den künstlerischen Ruf des tschechischen Films in der Welt vertraten und eine ungeheure Popularität besaßen. Einzelne Filme — noch sichtlich durch die stalinistischen Prinzipien gehemmt — ließen bereits aufhorchen und waren ein Ver sprechen für die Zukunft: so „Sirena” von Karel Stekly (noch 1947), einige Werke Fries, Vävras, Krejciks, Krskas und von Jiri Weiß, der dann noch Jahre als bedeutendster Vertreter des tschechischen Films im Ausland galt. Das sogenannte, nach Stalins Tod in allen Oststaaten beobachtete „Tauwetter” des künstlerischen Lebens brachte in der Tschechoslowakei jedoch keinen plötzlichen Umschwung mit sich (wie etwa in der Sowjetunion), sondern der Weg der freieren Entwicklung ging kontinuierlich vonstatten — es war ein unaufhaltsamer Pfad des Lernens, Ertastens, Er- kennens und Schaffens, dessen Meilensteine Jasnys „Sehnsucht” (1958), Weiß’ „Appassionata” (1959), Krejciks „Das höhere Prinzip” (1960) und Weiß’ „Romeo, Julia und die Nacht” (1960) bildeten.

Und in diesem Zeitpunkt begann sich eine neue, „junge” Generation von Regisseuren durchzusetzen, die die Voraussetzung für den so überraschenden Aufstieg der letzten Jahre bildeten: Frantisek Vläcil, dessen unkonventionell-poetischer Film „Die weiße Taube” (1960) den Weg vorbereitete, der zur „neuen Welle” des CSSR-Films wurde.

Der tschechoslowakische Film der Gegenwart hat sich dabei durchaus nicht nur einer bestimmten Problematik, der Beherrschung eines einzigen Themas verschrieben, sondern versucht sich in den verschiedensten Gattungen — und alles mit gleicher künstlerischer Spannkraft. Sei es die politische Problematik, die soziale Stellung, sei es das Musical (gleichwohl mit besonderer Themenstellung) oder das Lustspiel, sei es die Wildwestparodie oder die Groteskkomödie, ja selbst das Experiment und die psychologische Studie — alle diese Themenkreise sind im gegenwärtigen tschechischen Film zu entdecken und, darüber hinaus, be-

wältigt mit einer künstlerischen Sicherheit, die internationales Filmniveau erreicht hat und das Filmschaffen des Landes heute dem des italienischen oder französischen Films gleichwertig gegenüberstellt. Nennen wir im Detail einige der wichtigsten Filme, die auf der ganzen Welt bekannt sind und die auch der Filminteressierte in Österreich zumindest vom Namen her kennen sollte:

• die sozialkritisch und politischen Filme wie „Der Angeklagte” des unzertrennlichen Regisseurteams Elmar Klos und Jan Kadär, eine mutige Darstellung von Fehlern und Irrtümem im Sozialismus, eine Studie von eindringlichvisueller und durchdacht-psychologischer Gestaltung; und daneben der bedeutendste aller tschechischen Filme, vollendet in seinen Bildvisionen und zutiefst menschlich in seiner Aussage, Ewald Schorms „Mut für den Alltag”, ein — keineswegs gegen das Regime gerichtet (wie manche ausländische Journalisten zu vermerken belieben) — kritischer Standpunkt zur Denkweise junger Menschen im sozialistischen Staat, von einem großen Pessimismus erfüllt (was auch der aufgepfropfte Schlußkommentar nicht zu verdecken vermag), einer verständlichen Erscheinung unserer Zeit und unserer Welt;

• die großen Themen der dunklen Vergangenheit wie Zbynek Brynychs „Transport aus dem Paradies”, eine erschütternd-grausige Schilderung des Schreckens von Theresienstadt, halb Dokument, halb Spielfilm, der unerhört genau und dokumentarisch exakt, mit internationalem Niveau geschilderte Anschlag auf den „Reichsprotektor” Heydrich: „Das Attentat” von Jiri Sequens, und schließlich das surreal- kafkaesk anmutende Filmexperiment des jungen, überaus talentierten Jan Nemec „Diamanten der Nacht”, die Flucht zweier Jugendlicher aus einem KZ-Transport, ein faszinierendes Dokument tiefenpsychologisch feinst erfaßter Erkenntnisse;

• die realistisch-sozialkritische Studie über das Denken der Jugend „Schwarzer Peter” von Miloš Forman, eine dem „Cinėma vėritė” verwandte Gestaltungsform von überzeugender Lebensnahe und urwüchsigem, direktem Humor, die in Formans zweitem, neuerem Werk „Die Liebe einer Blonden” in etwas veränderter (allerdings für den westlichen Zuschauer bestimmten „raffinierten”) Weise variiert wird;

• die großen „Musical”, vor allem das überraschende Werk „Die Hopfenpflücker” (fälschlich als „East Side Story” von Kritikern ironisch kommentiert) von Ladislav Rychman, in dem das Problem der Entfremdung des Menschen — also ein absolut ernstes und ernstgemeintes, bedeutsames Thema — in den Rahmen einer heiteren, musikalisch beschwingten, streng rhythmisch akzentuierten (daher in seiner Kontrastwirkung um so packenderen) Musikkomödie gestellt wird, und das pazifistische Lustspiel mit Musik „… wenn 100 Klarinetten” von Jan Rohäö und Jan Svitäöek, in dem allerdings die Anhäufung parodistischer Schlager und die Turbulenz des ziemlich in die Länge gezogenen Geschehens die reizvolle Grundidee ein wenig verdunkeln;

• schließlich noch die parodistisch-satirlschen Lustspiele und Komödien wie Karel Zemans großartige, von seinen unerschöpflichen phantastischen Einfällen inspirierte „Narrenchronik”, eine Parabel aus dem Dreißigjährigen Krieg, die von Trnkas Meisterhand überwachte originelle Wildwest- fllmpąrodie „Der Limonaden-Joe” von Oldrich Lipsky (die allerdings auch ihre Einfälle, die eher dem Wildwestfilm der dreißiger Jahre gerecht werden als deren heutiger Problematik, ein wenig in die Breite führt) und das, besonders durch seine Farbeffekte berühmte Lustspiel „Wenn der Kater kommt” von Vojtech Jasny.

Zu diesen Langfilmen kommen dann noch mindestens ebenso bedeutende Dokumentär- und Kurzfilme, von denen nur zwei neue, doch hinreißende Beispiele genannt seien: Tmkas letzter mittellanger Puppenfilm „Die Hand” — das Problem des Künstlers in der Gewalt des Zwanges — und Pavel Brezinas Studie über die Romantik und Abenteuersehnsucht der Jugend „Potlach”. Diese beiden ebenso verblüffenden wie großartigen Beispiele — die auf den heurigen Festivals Preise über Preise auf sich vereinigen werden — mögen als Vertreter der vielen, aus Platzmangel nicht genannten anderen Filme stehen.

Ein Schlußwort erübrigt sich; die hier aufgezählten Tatsachen sprechen für sich selbst. Wir müssen nun daraus selbst die Konsequenzen suchen — ehe wir von ihnen überrannt werden...

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