"First Cow" - © Orion Lee (li.) und John Magaro in Kelly Reichardts amerikanischem Gründerzeitepos „First Cow

„First Cow“: Butterkekse im Wilden Westen

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Der Wilde Westen als Gesellschaftslabor: Kelly Reichardts „First Cow“ befasst sich mit der Geschichte Amerikas in sehr feingliedrigen, konkreten Bildern.

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Der Wilde Westen als Gesellschaftslabor: Kelly Reichardts „First Cow“ befasst sich mit der Geschichte Amerikas in sehr feingliedrigen, konkreten Bildern.

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Wer Kelly Reichardt kennt, der weiß um ihre Feinfühligkeit im Hinblick auf amerikanische Lebensrealitäten und Befindlichkeiten. Schon in „Meek’s Cutoff“ hat sie 2010 das Western-Genre als jenes erkannt, das ihr am besten durch die Benennung des Amerikanischen hilft; dort kann man nicht nur die Beziehungen der Menschen untereinander gut ausloten, sondern auch das große Ganze sehen: Der Western ist ideal, um gesellschaftliche Entwicklungen abzubilden, und das heißt im vorliegenden Fall vor allem: die Entwicklung einer Nation zu spiegeln, die sich vor knapp 250 Jahren überhaupt erst bildete.

Ein Melting Pot aus Einwanderern, inmitten einer Wildnis, die viel mehr parat hielt für die Ankömmlinge als Gold, Indianer und giftige Wüstentiere. „First Cow“ spürt den Anfängen dieser Nation und eines Nationengefühls nach, aber er tut das nicht allgemein, sondern sehr konkret, in kleinen Miniaturen. Zwei freigelegte Skelette, die Händchen halten.

Dann ein Flashback in eine unwirtliche Gegend, die Rückkehr von Kelly Reichardt an den Oregon Trail, den sie schon in in „Meek’s Cutoff“ besuchte und den sie erneut auf seine Pioniere hin untersucht, auf Menschen in Wäldern, die auf der Flucht sind, die Handel treiben, die Kekse backen. Ja, richtig: Hier werden Kekse gebacken, und das mitten im Wilden Westen! Reichardt lässt für „First Cow“ die Waffen schweigen und dafür die Buttermilchkekse zum Verkaufsschlager werden.

Die Skurrilität vieler Figuren will die Fremde illustrieren; so fremd fühlt sich das Leben für heutige Augen an, dass es die Vorstellungskraft übersteigt.

Im Zentrum steht der Einzelgänger Cookie Figowitz (John Magaro), der in den 1820ern nach Oregon gereist ist und sich einer Gruppe von Pelztierjägern angeschlossen hat, für die er als Koch arbeitet. Er lernt den Chinesen King Lu (Orion Lee) kennen, ein junger Mann auf der Flucht vor den Russen, und man kommt gemeinsam auf die Geschäftsidee, nachts die erste und einzige Milchkuh der Umgebung zu melken, die einem englischen Grundbesitzer (Toby Jones) gehört.

Die daraus gebackenen Kekse kommen bei den Käufern am naheliegenden Markt sehr gut an, King-Lu übernimmt bald den Verkauf. Frühe Strukturen von Wirtschaft zeichnen sich ab. Kelly Reichardt taucht ein in gerade entstehende gesellschaftliche Formierungen, das ist das Interessante an „First Cow“, der auf dem Roman „Half Life“ von Jonathan Raymond basiert.

Es ist ein Blick zurück in die amerikanische Frühgeschichte. Dabei bildet die Verfilmung nur ein Segment des Romans ab, der sich über mehrere Jahrhunderte spannt. Reichardt fokussiert speziell auf die Zeit des 19. Jahrhunderts, auch, um das Männlichkeitsbild jener Zeit einzufangen. Es sind Handwerker, die in einer ruralen Umgebung der 1820er Jahre ihr Dasein fristen. In bestehende Ordnungen kommen neue Menschen hinzu, die Einwanderer sind hier auch Eindringlinge, und das wiederum ist für Reichardt ein willkommenes Thema, an dem sie sich abarbeiten kann.

Erste Schritte in die Gesellschaft

Die Geschichte erzählt von einer lange vergangenen Zeit, zugleich berichtet sie von den sich formenden Grundfesten der amerikanischen Gesellschaft. Reichardt begleitet die ersten Schritte in diese Gesellschaft, das Zusammenleben von Menschen unterschiedlichster Herkunft und auch von Mensch und Tier, das alles will erst gelernt, geordnet, reglementiert werden. Hier ist Reichardts Blick am genauesten: Es geht um die Frage, wie Menschen sich untereinander arrangieren und sich assimilieren. Eigentlich eine sehr heutige Auseinandersetzung mit Gesellschaftsfragen.

Nicht umsonst schlägt Kelly Reichardt gleich zu Beginn des Films eine Brücke in die Jetzt-Zeit, um diesen Zusammenhang zu verdeutlichen. Die händchenhaltenden Knochen am Anfang sind mehr als ein bloßer Verweis auf die zwei Zeitebenen der Roman-Vorlage. Hinzu kommt Reichardts formale Strenge: Im 4:3-Bildformat setzt sie dem sonst für Breitwand-Bilder bekannten Genre enge Grenzen. Die Skurrilität vieler Figuren in „First Cow“ will die Fremde der Materie illustrieren; so fremd fühlt sich das Leben für heutige Augen an, dass es unsere Vorstellungskraft übersteigt. Und dann serviert Reichardt zudem noch eine Menge an Auslassungen, ein Spiel, in dem sie Meisterin ist; nicht alles, was zu sehen ist, hat hier eine Bedeutung, aber alles, was nicht zu sehen ist.

Es ist eine reich komponierte, vielschichtige Auseinandersetzung mit der Geschichte Amerikas, aber sie geschieht fast unmerklich, zwischen den Zeilen. Auch das ist ein Kennzeichen dieser Regisseurin, die man nicht umsonst eine der prägendsten Figuren des zeitgenössischen US-Kinos nennt.

Film

First Cow

USA 2020.
Regie: Kelly Reichardt.
Mit John Magaro, Orion Lee, Rene Auberjonois, Lily Gladstone.
Polyfilm. 121 Min

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