FIXIERT auf männlich oder weiblich?

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"Gender" macht Geschlechtergrenzen fließend. Ist das gut so? Ein Streitgespräch über biologische Unterschiede, Familienbilder, Sexualpädagogik und die Aufgaben der Moraltheologie.

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"Gender" macht Geschlechtergrenzen fließend. Ist das gut so? Ein Streitgespräch über biologische Unterschiede, Familienbilder, Sexualpädagogik und die Aufgaben der Moraltheologie.

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Sie sind beide katholisch, doch zum Thema "Gender" vertreten sie konträre Positionen: die Wiener VP-Landtagsabgeordnete Gudrun Kugler und die Salzburger Moraltheologin und Ethikerin Angelika Walser. Auf Einladung der FURCHE haben sie darüber debattiert, was von dieser Kategorie in Theorie und Praxis zu halten ist.

DIE FURCHE: In seinem Schreiben über die Familie, "Amoris laetitia", warnt Papst Franziskus in Kapitel 56 vor der "Gender-Ideologie", die, wie er schreibt, "den Unterschied und die natürliche Aufeinander-Verwiesenheit von Mann und Frau leugnet. Sie stellt eine Gesellschaft ohne Geschlechterdifferenz in Aussicht und höhlt die anthropologische Grundlage der Familie aus." Können Sie diese Warnung nachvollziehen, Frau Walser?

Angelika Walser: Es gibt in Amoris laetitia verschiedene Stellen, die einander durchaus widersprechen. Neben dem Kapitel 56 finden sich etwa auch Stellen, in denen der Papst die Kategorie Gender in ihrem Grundanliegen aufgreift. So heißt es in Nr. 286: "es ist auch wahr, dass das Männliche und das Weibliche nicht etwas starr Umgrenztes ist." Genau das ist das Anliegen der Kategorie Gender: diese Starrheit der Konzepte zu überwinden. Der Papst hat also ein gemischtes Programm, und ich sehe einiges, was vielleicht nicht zur Euphorie, aber zur Hoffnung Anlass gibt.

Gudrun Kugler: Es ist selbstverständlich, dass Mann und Frau auch soziokulturelle Einflüsse erleben. Was der Papst aber in Nr. 56 ablehnt, ist, wenn man diesen Gedanken bis zum Ende spielt und sagt: Es gibt nur soziokulturelle Faktoren und die Biologie hat keine Auswirkung auf den Menschen.

Walser: Aber nennen Sie mir doch bitte ein Beispiel aus der Fülle der seit den 1960er Jahren entwickelten Gender-Konzeptionen, in dem eine Autorin oder ein Autor schreibt, dass Biologie keinerlei Rolle spielt!

Kugler: Es wundert mich, dass Sie das sagen. Ich kann Ihnen aber gern den Wiener Bildungsplan für Kindergärten zitieren

DIE FURCHE: Hier heißt es: "Was wir unter Weiblichkeit oder Männlichkeit verstehen, also das soziale Geschlecht, Gender, ist gesellschaftlich konstruiert und nicht biologisch festgeschrieben. Es ist erlernt und damit veränderbar "

Kugler: Richtig. Und auch Judith Butler meint: Anatomie ist ein soziales Konstrukt. Die deutsche Forscherin Franziska Schößler schreibt auch: "Es ist Willkür, wenn Menschen nach ihren Geschlechtsteilen sortiert werden. Genauso gut könnte man die Größe nehmen oder die Haarfarbe. Naturwissenschaft und Medizin haben heute eine ähnliche Funktion, wie die Theologie sie einst hatte." Damit bezeichnet Schößler naturwissenschaftliche Erkenntnisse als "Glaubenssätze". Natürlich soll man geschlechtersensibel arbeiten. Aber die Frage ist: Wie gehen wir vor, um das einem breiteren Publikum zu vermitteln? Ich glaube nicht, dass die Dekonstruktion der Geschlechterrollen hier eine Hilfe ist.

Walser: Viele, die sich auf Judith Butler berufen, haben sie missverstanden. Butler bezieht sich eben nicht darauf, dass es keine anatomischen Unterschiede gäbe. Denn die gibt es natürlich. Wobei die Sexualmedizin heute kontrovers diskutiert, ob nicht statt "männlich" und "weiblich" besser von einem Spektrum oder einem Mosaik zu sprechen wäre - auch in der Hirnforschung. In diesen Diskurs über die biologischen Unterschiede rutschen aber wieder altbekannte Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit hinein. Was Butler also anstrebt, ist die Dekonstruktion des biologischen Geschlechts auf der diskursiven Ebene. Deswegen gibt es aber nach wie vor Unterschiede.

Kugler: Gut. Die Frage ist aber: Was machen wir damit? Das Problem besteht ja darin, dass Unterschiedlichkeit häufig mit einer Abwertung der Frau geleichgesetzt wird. Und das müssen wir durchbrechen.

Walser: Genau das ist das Ziel theologischer Ethik, wenn sie die Kategorie Gender und auch ihre Dekonstruktion miteinbezieht. Nicht die Unterschiedlichkeit ist ja das Problem, sondern die Fixierung auf eine Ordnung, die "Mannsein" und "Frausein" festschreibt. Durch diese Fixierung werden Hierarchien produziert und jedes Dazwischen ausgeschlossen.

Kugler: Aber der Papst sagt in Amoris laetitia auch, dass die Verdrängung der Unterschiede das Problem und nicht die Lösung ist -und dass die Komplementarität der Geschlechter die Voraussetzung für das Wohlergehen der Geschlechter ist. Ich würde mir von der Moraltheologie wünschen, dass wir eine echte Lebenshilfe bekommen: Was bedeutet es, heute Mann oder Frau zu sein, Vater zu sein, Mutter zu sein? Das bewegt die Menschen.

Walser: Also ich kenne keinen einzigen Entwurf - inklusive Judith Butler -, der nicht genau das Anliegen hätte, sich auf die wirklichen, ethischen Fragen zu konzentrieren. Die sind aber nicht anhand dieses Geschlechter-Dualismus zu lösen, den ich auch bei Ihnen merke, sondern indem man auf Individuen in ihrer Beziehung schaut. Und Beziehungen gibt es nicht nur zwischen Männern und Frauen. Es geht auch in der Moraltheologie - oder besser in der theologischen Ethik - um die Frage: Wie gestalten wir miteinander ein gutes Leben? Und das betrifft alle Menschen ungeachtet ihrer geschlechtlichen Orientierung.

Kugler: Ich glaube trotzdem, dass die Dekonstruktion des Mann- und Frau-Seins hier nicht weiterhilft. Sie müssen den Menschen zutrauen, dass sie mit Unterschiedlichkeit umgehen können. Der Mensch erlebt sich als Mann oder als Frau, er ist keine leere Projektionsfläche.

Walser: Das, was Sie hier als Gender beschreiben, erkenne ich zumindest in der theologischen Ethik schlicht nicht wieder!

Kugler: Aber es ist politische Realität. Als Konsequenz gibt es eben einen Bildungsplan, der erklärt, dass es Männlichkeit und Weiblichkeit nicht mehr gibt. Wir haben auf den Unis eine Schlechterbenotung, wenn in Diplomarbeiten nicht gegendert wird oder in Wien eine Strafzetteleinstampfung, die Millionen kostet, weil nicht "die Lenkerin" draufsteht. Ein Schulbuch wird über 23 Prozent länger, wenn durchgegendert wird; und man baut dritte Klos für jene, die nicht wissen, ob sie in das für Damen oder Herren gehen sollen. Zugleich wird den Familien Anerkennung genommen. Sie werden ein Lebensmodell unter vielen.

Walser: Sie führen da eine Fülle politischer Umsetzungen von Gender Mainstreaming an, unter denen ich auch manche Absurditäten erkenne, weil die Politik offenbar auf das Gender-Thema fixiert ist. Aber die theologische Ethik ist das nicht: Sie nimmt die Kategorie Gender auf, um sie letztlich hinter sich zu lassen. Ich als Ethikerin frage mich: Wie können wir ein gutes Leben gemeinsam gestalten? Und das tun wir nicht durch Abwertung, sondern durch die Anerkennung von Diversität.

DIE FURCHE: Aber was ist mit dem Vorwurf, dass die Familie als "Lebensentwurf unter vielen" nicht mehr gefördert würde?

Walser: Die Frage ist, was heute "Familie" ist. Für den Hamburger Sexualwissenschafter Gunter Schmidt ist Familie dort, "wo mindestens zwei Menschen füreinander Verpflichtung übernehmen für viele Jahre." Wir werden einer säkularen Gesellschaft nicht die katholische Familienmoral überstülpen können, sondern wir müssen sie anschlussfähig machen. Die christliche Moral hat ja einen universalen Anspruch. Es geht um die Frage, was ein christlicher Kerngedanke ist - und wo wir die Pluralität der Lebensformen respektieren müssen. Und dann rücken Dinge wie Gleichberechtigung der Geschlechter, Verantwortung und Fürsorge in den Blickpunkt. Wobei das uralte Familienmodell von Mann, Frau und Kind nach wie vor hohe Plausibilität genießt. Studien zeigen, d ass sich Jugendliche nach Familie, Stabilität und Geborgenheit sehnen.

Kugler: Laut einer ORF-Umfrage sind es sogar 93 Prozent. Und 80 Prozent der Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren leben in Österreich nach wie vor bei ihren leiblichen Eltern. Deshalb wünsche ich mir von der Moraltheologie auch eine Hilfestellung: Wie kann Treue gelingen? Wie kann man Konflikte bewältigen? Das heutige Konfliktlösungspotenzial ist nicht sehr groß. Und ich fürchte, dass es durch die Gender-Diskussion auch für die Treue schwieriger wird.

Walser: Zur Frage, wie Familie und Treue aus Sicht der katholischen Ethik formuliert werden können, liegen seit Jahren Publikationen von Moraltheologinnen und -theologen auf dem Tisch, die Gender ernst nehmen. Bitte setzen Sie sich doch damit auseinander!

Kugler: Ich sage das nicht oft, aber ich habe ein Magisterium in Gender-Studies. Dabei habe ich lernen müssen, dass es 13 Geschlechter gibt - eines davon ist ein Zwittervolk in der Sahara, das noch niemand gesehen hat.

Walser: Aber wie lange ist das schon her?

Kugler: 15 Jahre.

Walser: Das ist entscheidend.

Kugler: Wieso, war die Gender-Theorie früher schlecht und ist jetzt besser?

Walser: Nein, aber sie hat sich weiterentwickelt. Außerdem gibt es nicht "die Gender-Theorie", sondern eine Fülle an Konzepten.

Kugler: Hoffentlich wird sie sich noch einmal weiterentwickeln.

DIE FURCHE: Kommen wir zu einem Thema, bei dem "Gender" eine wesentliche Rolle spielt: nämlich Sexualpädagogik. Der entsprechende Grundsatzerlass für Österreichs Schulen wurde heftig diskutiert - und schließlich abgeändert. Nun heißt es darin: "Sexualerziehung fördert die Achtung vor der Vielfalt und Verschiedenheit der Geschlechter sowie das Bewusstsein für sexuelle Identität und Geschlechterrollen." Ist das nicht gut so, Frau Kugler?

Kugler: Ein Unterrichtsprinzip "Respekt" wäre für alle Fächer wichtig - das betrifft auch die Sexualerziehung. Und ja, auch der Papst spricht sich in Amoris laetitia für Sexualerziehung in den Schulen aus. Er sagt aber: Sie muss positiv und klug sein. Dazu gehört auch, Fruchtbarkeit, Selbstbeherrschung, Konfliktlösung und Liebe zu thematisieren. Eine solche Sexualerziehung ist nach Ansicht des Papstes ein Weg zur Freude und zur gelungenen Beziehung.

Walser: Die Passagen des Papstes, die Sie zitiert haben, sind wunderbar und eröffnen auch den Weg zu einem unverkrampften Umgang mit dem Thema Sexualität.

Kugler: Es ist aber auch ganz wichtig, dass Sexualerziehung altersgerecht ist - und gerade hier ist in Österreich nicht alles perfekt. Ein achtjähriges Kind muss etwa nicht wissen, was ein Orgasmus ist.

Walser: Aber achtjährige Kinder konsumieren nachweislich pornographisches Material. Wenn wir das thematisieren sollen, kommen wir um den Orgasmus nicht herum

Kugler: Also ich finde, bei der Altersgerechtigkeit gibt es Verbesserungsbedarf. Auch die Werteorientierung kommt im Grundsatzerlass nicht vor: Das Leitbild Vater-Mutter-Kind gilt als eines von vielen Familienbildern; es gibt viele Arten von Sexualakten, die alle gleich sind -und viele Geschlechter, von denen man sich eines aussuchen kann. Das ist ein normativer Pluralismus, der dem Sehnen der Menschen nicht gerecht wird.

Walser: Es stimmt schon, dass eine Gleichgültigkeit im Sinn von "es ist moralisch alles gleich gültig" nicht das Ziel sein kann. Aber es ist nun einmal Tatsache, dass es heute viele Lebensformen von Familien nebeneinander gibt, das ist Realität bei den Kindern. Kugler: Die Intention ist wohl, Leiden zu vermeiden, wenn jemand erlebt: Bei mir ist es nicht so. Aber das Leiden wird nicht weniger, wenn wir gar kein Familienbild mehr haben. Wir brauchen bessere Antworten auf die Brüche, die heute durch die Familien gehen.

Walser: Ich sehe auch, dass etwa der Leitwert der sexuellen Selbstbestimmung - über den die Kirche übrigens auch einmal positiv nachdenken könnte - allein nicht reicht. Es bedarf weiterer, gleichberechtigter Leitwerte, weil die Menschen - und insbesondere die Kinder - verletzlich sind. Die Würde der einzelnen Person ist zu schützen, Stichwort Pornographie. Ich kann mich aber auch erinnern, dass mir in meiner Zeit als Religionslehrerin an einer Wiener BHS einmal ein 15-jähriges Mädchen erzählt hat, dass sie am Wochenende wieder einmal mir ihrem Freund schlafen musste, weil er sonst weggehen würde und sie dann gar keine Liebe mehr hätte. Von "sexueller Selbstbestimmung" konnte hier gar nicht die Rede sein.

DIE FURCHE: Wie haben Sie in diesem Fall reagiert?

Walser: Ich wusste jedenfalls, dass es nichts hilft, wenn ich jetzt einen Vortrag darüber halte, dass die Ehe die einzige Form legitimer Geschlechtslust ist, wie ich es gemäß dem Handbuch der traditionellen Moraltheologie hätte aufsagen müssen. Die Mädels hätten wohl gesagt: Schon recht, ist mir wurscht. Ich habe als Pädagogin darauf gesetzt, mit ihnen über ihren Selbstwert zu reden, über ihre Körperlichkeit, über einen verantwortlichen Umgang mit sich selbst. Und in dem Moment haben sie mir auch mehr Autorität zugestanden.

Kugler: Sie wären eine gute Sozialarbeiterin. Aber aus Sicht der Moraltheologie kann man schon mehr sagen als: "Überleg' es dir!" Walser: Nachdenken wäre beim Thema Sexualität schon mal ein guter Anfang. Aber natürlich reicht das nicht. Der Religionsunterricht thematisiert genau deswegen ja auch Werte wie Beziehung, Treue und Verantwortung.

Kugler: Ich denke, man sollte aus dem christlichen Menschenbild heraus erklären, was Sexualität mit dem Eingehen einer stabilen Beziehung zu tun hat. Oft haben ja gerade Jugendliche die Illusion, dass man durch den Sexualakt allein innere Nähe schafft.

Walser: Das stimmt. Es gibt auch Formen einer total entkoppelten und ökonomisierten Sexualität, die man kritisieren muss.

Kugler: Es ist aber auch Lehrziel im österreichischen Recht, das Wahre, Gute und Schöne zu unterstreichen. Insofern wünsche ich mir vom Religionsunterricht - und von der Moraltheologie - eine Hilfestellung, das hohe Ideal von Liebe und Familie zu erreichen. Walser: Ein Ideal erreichen geht per se nicht. Wir sind immer nur auf dem Weg.

Kugler: Aber zumindest den Weg zum Ideal sollte man zeigen.

Das Gespräch führten Doris Helmberger und Otto Friedrich

DIE DISKUTANTINNEN

Gudrun Kugler

Die promovierte Juristin und vierfache Mutter ist Wiener Landtagsabgeordnete (ÖVP). Sie hat in Linz "Gender Studies" studiert und einen Master des "Internationalen Theologischen Instituts für Studien zu Ehe und Familie" in Trumau, wo sie auch lehrt.

Angelika Walser

Die katholische Theologin hat in Würzburg und München studiert und sich 2013 im Fach "Theologische Ethik" an der Universität Wien habilitiert. 2015 wurde die Mutter zweier Töchter auf den Lehrstuhl für Moraltheologie der Universität Salzburg berufen.

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