Flucht in WunschWelten
Vor 100 Jahren starb mit Karl may der "ehrwürdige don Quixote der indianerromantiK".
Vor 100 Jahren starb mit Karl may der "ehrwürdige don Quixote der indianerromantiK".
Mit den Abenteuern und Mythen seiner klassisch gewordenen "Reiseerzählungen" hat Karl May Generationen Heranwachsender verzaubert. Nimmt man die Bände des im In-und Ausland noch immer meistgelesenen Schriftstellers deutscher Sprache hingegen als Erwachsener wieder zur Hand, so sind die vorherrschenden Eindrücke auf den ersten Blick womöglich ganz andere.
Als allzu schlicht, ja simpel entpuppt sich da die Machart seiner Texte, in denen unablässig intrigiert, überlistet, gefangen genommen und befreit wird, bevor die Bösewichter ihre gerechte Strafe empfangen. Zur dieser immer gleichen Variation bestimmter Handlungsmuster gesellen sich andere literarische Untugenden, teils sogar jener blanke Kitsch, der sich in Winnetous Sterbeszene beispielhaft verdichtet. Ein klarer Fall also von lebensgeschichtlich abgelegten Lesestoffen, die nicht mehr ernst zu nehmen sind? Keineswegs. Bei genauerem Hinschauen nämlich weist dieser Autor eine überraschend ergiebige Vielschichtigkeit auf.
Einen Wink in diese Richtung geben prominente Referenzen für May. Kann jemand belanglos sein, in dem Heinrich Mann "einen Dichter" vermutet, oder dessen "grelle, knallige" Werke Hesse literaturtypologisch betrachtet "unentbehrlich und ewig" nennt? Sodann die Fülle wissenschaftlicher Literatur: Überzeugend wird der Nachweis geführt, dass die Lektüre Mays unter mehreren Gesichtspunkten und auf verschiedenen Ebenen Erkenntnisse befördert, die ihn teils zu einem nachgerade bedeutenden Autor machen.
Nicht-weißer Menschheitsheiland
Weiter ist kein deutscher Autor gegangen, ausgerechnet einen Nicht-Weißen zum "Prototyp" des kommenden "neuen Menschen" zu erheben. Am Ende seiner sich über mehr als drei Jahrzehnte hinweg erstreckenden Metamorphosen, im vierten Band der nach ihm benannten Reihe, mutiert der Apachenhäuptling Winnetou zum roten Menschheitsheiland.
Fest steht auch, dass dieser wunderliche Autor für unterdrückte und in ihrem Bestand gefährdete Völker mehr als nur diffuse Sympathien aufbringt. Unterfüttert vom Konzept einer die Menschheit umspannenden Kultur der Verschiedenheit, in der jeder ethnisch und national besondere Beitrag von Belang ist, fordert er deren Lebensrecht ein. Im Zeitalter des biologistisch argumentierenden Imperialismus ist dies nicht selbstverständlich.
Mays Ethik des Respekts und Mitleids schöpft aus religiösen Quellen. Wie überhaupt der Glaube sein innerstes Anliegen darstellt. Der Mitarbeiter katholischer Zeitschriften (von Bischöfen zunächst als Gegenbild zur "verderblichen Romanliteratur" der Zeit gepriesen, und dann, als sich herausstellt, dass er gar nicht ihrer Kirche angehört, von Theologen und Publizisten befehdet) hebt in seinen Altersbriefen hervor, es könne "keiner ein guter Christ oder ein guter Israelit sein, der nicht vorher ein guter Mensch geworden ist." Auf seiner Weigerung, Unterschiede zwischen Ewigkeit und Zeit, zwischen Tod und Leben anzuerkennen, gründet der ihm von Arno Schmidt verliehene Titel des "bisher letzten Großmystikers unserer Literatur".
Darin ebenfalls seiner Zeit voraus, hat May das Entwicklungspotenzial des Islams erkannt. Einen schlafenden "Riesen" nennt er ihn. Zwar überzieht er in seinen Orient-Romanen die andere Religion mit kontroverstheologischem Sperrfeuer, um die Überlegenheit des Christentums zu demonstrieren -in der Theorie jedenfalls, während die praktische Politik der 'christlichen' Mächte kritisiert wird. Zu den menschheitsgeschichtlichen Visionen seines Spätwerks gehört ausdrücklich "die friedliche Versöhnung des Morgenlandes mit dem Abendlande und damit die Lösung dieser brennenden Frage unserer Zeit". Niemand wird heute behaupten, dass dieses 1906 geschriebene Postulat Staub angesetzt hätte. Dazu passt des späten May grundsätzliche Einstellung zum Krieg. Mit Bertha von Suttner ist er in wechselseitiger Wertschätzung verbunden.
Als Typus ist May eine der interessantesten Figuren des 19. Jahrhunderts. Modellhaft lässt sich anhand seines Werdegangs nachvollziehen, wie menschliches Unglück produktiv verwandelt und das Schreiben als gleichsam therapeutischer Ausgleich zu wirken vermag. Der begabte Sohn "blutarmer Webersleute" aus dem Erzgebirge, der verkrachte Hilfslehrer an einer Armenschule, der ehemalige Kleinkriminelle und Zuchthäusler, der sich 1875, mit 33 Jahren, zunächst als Redakteur bei einem Verleger von "Schundromanen" verdingt: er flüchtet in eine selbst geschaffene, mit omnipotenten Wunschphantasien ausgestattete Welt. Man hat May, bei dem die Imagination ungleich höher entwickelt ist als das Realitätsprinzip, mit Recht Nähe zu Frühformen menschlichen Bewusstseins attestiert.
Im Kostüm seiner Geschöpfe
In der nachträglichen Überkompensation erlittener Demütigungen besteht die Urszene dieses Autors, der sich in einem seiner Bücher ein "literarisches enfant terrible" nennt. Doch auch viele Einzelmotive weisen auf psychobiografische Reaktionen oder eine gesteigerte Durchlässigkeit seines Ichs für Impulse des Unbewussten hin, deren literarische Umsetzungen nicht nur seelenkundlich faszinieren, sondern auch als strukturbildende literarische Leistung. Auf dem Höhepunkt seiner Beliebtheit, als ab 1892 die "Reiseerzählungen" in Buchform zu erscheinen beginnen, verliert May endgültig die schon durch die Ich-Form seiner Texte aufgeweichte Distanz und lässt sich im Kostüm seiner Sehnsuchtsexistenzen Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi fotografieren. Wenn man so will, ist das Maskenspiel "dieses ehrwürdigen Don Quixote der Indianerromantik"(Albert Ehrenstein) Signum für eine ganze Epoche. Viele von deren Phänomene bilden Mays Werke auf zuweilen untergründige oder verfremdete Weise ab. Auch deshalb tragen sie dazu bei, Zustände und Befindlichkeiten der deutschen Gesellschaft des Kaiserreichs zu erhellen. Doch so sehr der Autor dieser Zeit verhaftet ist, widerspricht er ihr zugleich. In der Prärie schafft sich der unausgelebte Drang nach Freiheit eine Gegenwelt, die das heimische Milieu ebenso spiegelt wie verabschiedet.
Energisch verwahrt sich der späte May gegen die Behauptung, er habe "weiter nichts als ganz gewöhnliche Indianer-und Beduinengeschichten geschrieben". Recht hat er! Ihn auf "ein Unterhaltungskarnickel der dummen Jungens und Mädels" zu reduzieren, würde nicht nur sein "ernstes Wollen" im Alter völlig verfehlen, sondern das gesamte Werk, mag es noch so viele Reibungsflächen bieten. Und so wird ein kritisch geläuterter Leser zu Karl May immer ein doppeltes Verhältnis einnehmen: ebenso augenzwinkernd wie respektvoll - wobei die Waage sich letztlich doch sehr zugunsten der Hochachtung neigt.
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