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Warum ich so gerne Tagebücher lese? Vielleicht weil es mich ermutigt, anderen dabei zuzusehen, wie sie sich mit täglichem Fleiß gegen die Tyrannei der Vergänglichkeit zu behaupten wissen. Die "Notenbücher des Herzens" (Hebbel), in denen berühmte und unbekannte Autoren sich als "Meteorologen des Selbst" (Rousseau) betätigen, erstrecken sich im Regal mittlerweile auf sechs Meter, und ein Ende ist nicht abzusehen, denn Tagebücher scheinen den starken Willen zu haben, auch ohne mein Zutun ihren Weg zu mir zu finden.

Vor einigen Jahren habe ich, der leidenschaftliche Leser von Journalen, meine eigenen veröffentlicht. Als "Mit mir, ohne mich" und "Von nah, von fern" erschienen, war ich hochmütig genug, öffentlich anzukündigen, dass ich als Diarist wohl bis ans Lebensende damit fortfahren werde, der Welt mein subjektives Bild von ihr entgegenzuhalten. Vielleicht war es ein Pakt, den ich mit mir selber schloss, um Faulheit nicht zuzulassen - das unvorsichtige Versprechen, alle Tage des Lebens in ein Heft einzutragen, was einem auffällt, war jedenfalls ausgesprochen. Jetzt sitze ich gerade wieder darüber, aus den Aufzeichnungen zweier Jahre ein Buch zu gestalten, das in seiner fortgesetzten Selbstaussprache doch den Anspruch erheben will, anderes als private Herzens-Ergießungen zu bieten. Wenn ich über der Arbeit verzage und am Sinn des Unterfangens zu zweifeln beginne, blättere ich bei Gustaw Herling nach, dem großen polnischen Autor, dessen Lebenswerk das gigantische, über 40 Jahre entstandene "Tagebuch bei Nacht geschrieben" ist: "Die Gabe der Aufmerksamkeit", belehrt er mich darin, "ist eine Tugend und ihr Fehlen mehr als nur ein angeborener Defekt: Er ist eine schwere Sünde. Manchmal glaube ich, dass die Lähmung, Abstumpfung und Tötung der Aufmerksamkeit einer der wichtigsten Beweise für die Existenz des Teufels ist." Vielleicht lese und schreibe ich ja Tagebücher, um nicht des Teufels zu sein.

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