Flüchtlinge: Die Ärmsten nehmen die meisten auf

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Der zum Weltflüchtlingstag am 20. Juni publizierte UNHCR-Weltflüchtlingsbericht bestätigt: Die Entwicklungsländer tragen die Flüchtlingslast - aktuell am meisten: Pakistan.

Das Swat-Tal war einst ein beliebtes Touristenziel. Wegen seiner reizvollen Landschaft wurde es "die Schweiz Pakistans" genannt. Seit zwei Jahren jedoch geriet es immer stärker unter die Kontrolle der Taliban - viele von ihnen Einheimische, die den radikalen Geistlichen Maulana Fazlullah unterstützen. Weder Militäroffensiven noch Friedensvereinbarungen vermochten die Taliban zu vertreiben. Getrieben von den USA starteten die pakistanischen Streitkräfte deswegen im Mai eine Militäraktion, die die Wende bringen sollte.

Anstatt militärischer Erfolge gibt es bislang aber nur mehr Gegenangriffe, Attentate und vor allem eine neue Flüchtlingswelle zu vermelden. Nach Angaben der pakistanischen Streitkräfte machen die Offensiven im Nordwesten des Landes, darunter auch zurückliegende Aktionen, Hunderttausende Menschen zu Vertriebenen.

In Pakistan lebten davor schon die meisten Flüchtlinge und intern Vertriebene weltweit. 1,8 Millionen Flüchtlinge zählt das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen UNHCR in seinem zum Weltflüchtlingstag am 20. Juni veröffentlichten Jahresbericht 2008. Die nächsten zwei größten Gastländer für die meisten Flüchtlinge sind Syrien mit 1,1 Millionen und der Iran mit 980.000. Insgesamt rechnet das UNHCR bis Ende des letzten Jahres mit 42 Millionen gewaltsam vertriebener Menschen auf der Welt. Dazu gehören 15,2 Millionen Flüchtlinge, 827.000 Asylwerber und 26 Millionen Binnenvertriebene.

Einer von vier Flüchtlingen: aus Afghanistan

Besonders diese letzte Gruppe hat zu Beginn 2009 wieder stark zugenommen, während es bei der Flüchtlingszahl 2008 einen Rückgang von 700.000 zum Vorjahr gegeben hat. Einer von vier Flüchtlingen auf der Welt kommt aus Afghanistan, das mit 2,8 Millionen die Liste anführt. Gefolgt vom Irak mit 1,9 Millionen. Wie in den Vorjahren gleich geblieben ist die Aufteilung der Flüchtlinge: Vier Fünftel oder 80 Prozent werden von Entwicklungsländern aufgenommen.

So wie im Flüchtlingslager Jalala im Nordwesten Pakistans, südlich des Kampfgebiets zwischen Regierungstruppen und Taliban. Es ist heiß und stickig, Rehmat Noor ringt mühsam nach Luft. Die alte Frau taumelt verschwitzt in das medizinische Versorgungszelt im Lager. "Ich bin schwach und kann kaum noch laufen", klagt die fast erblindete Greisin, in deren Mund nur noch drei verfaulte Zähne stehen. Auch Noors Familie ist aus ihrem Bergdorf im Distrikt Buner vor den seit Wochen andauernden Kämpfen geflohen.

Auf der Flucht konnten Rehmat und ihre Familie nichts retten außer ihr Leben. "Wir haben unsere Ernte, unser Haus und all unser Eigentum zurückgelassen", berichtet Noor mit tränenden Augen. "Das Getreide muss jetzt geerntet werden, aber wir sind nicht dort." Gemeinsam mit anderen Flüchtlingen schläft die Familie nun auf dem harten Betonboden einer verwaisten Schule.

Freiwillige bemühen sich in den Flüchtlingslagern der Regierung nach Kräften um die Versorgung der Vertriebenen. Doch es fehlt an Unterkünften und an Nahrung, bis zu 15 Menschen schlafen gemeinsam in einem Zelt. Die Trinkwasserpumpe steht direkt neben stinkenden Latrinen, besonders die Kinder haben Durchfall. Überall schwirren Fliegen, in den Büschen und Feldern kriechen gefährliche Schlangen und Skorpione. Es gibt keinen Strom, nichts erleichtert die drückende Hitze, welche die aus den Bergen kommenden Menschen nicht gewöhnt sind.

Doch die in dem Lager Jalala untergekommenen Flüchtlinge leiden nicht nur an Hunger und Hitze, warnt der Psychologe Atta-ur-Rehman. Die Vertriebenen seien geplagt von Sorgen um die Zukunft ihrer Familien. Keiner weiß, wann oder ob sie jemals in ihre Dörfer zurückkehren können. "Diese Menschen sind seelisch gestört, sie leiden unter Depressionen und Schlaflosigkeit", berichtet Arzt Rehman inmitten einer Schar von Flüchtlingen, die ihm ihre Geschichte erzählen wollen. Diese Geschichten handeln von Gräueltaten der Taliban, die immer wieder angebliche Spione hinrichteten, von Ausgangssperren und Leichen in den Straßen. Die Geflohenen berichten dem Arzt von Mörserbeschuss, Luftangriffen, Morden und wieder Morden …

Vertrieben aus der "Schweiz Pakistans"

Die 16-jährige Kulsoom erkannte ihren getöteten Verwandten sofort, obwohl sein Kopf abgetrennt und auf seinem Rücken abgelegt war - eine von den Taliban gegen angebliche Spione angewandte Bestrafung. Der grausige Fund ist eine von mehreren Begebenheiten aus ihrem Leben in dem von Taliban beherrschten pakistanischen Swat-Tal, über die sie erzählt. Wie Zehntausende andere Bewohner des Tals flüchtete auch sie vor den Kämpfen und lebt nun im überfüllten Lager bei Jalala. Das islamische Recht, wie es die Taliban interpretieren und durchsetzen wollen, war vielen Bewohnern in dieser konservativen Region Pakistans zu hart - einer der Gründe dafür, dass viele Flüchtlinge die Militäroffensive in dem Gebiet unterstützen.

Kinderleid: die Puppen zurücklassen

Kulsoom kommt aus Mingora, der größten Stadt im Swat-Tal. Sie musste ihre Arbeitsstelle als Haushälterin aufgeben, weil die Taliban die Bewegungsfreiheit von Frauen zunehmend einschränkten. Auf der Straße sei sie von Taliban angehalten und verwarnt worden, statt ihres normalen Schleiers eine Ganzkörper-Burka zu tragen. Wie die meisten Flüchtlinge hofft auch Kulsoom auf baldige Rückkehr. Aber sie ist bereit zu warten, bis sie ihr Haus wieder ohne Furcht verlassen kann. "Wer ist schon glücklich, in einem Zimmer eingesperrt zu sein?"

Aus Furcht vor den Taliban nennt sie nicht ihren vollen Namen. Als ihre Mutter sie ermahnt, nicht zu viel zu erzählen, erklärt sie zunächst trotzig: "Ich habe keine Angst vor ihnen!" Später bittet sie aber darum, nicht zu viele Einzelheiten über sie zu schreiben, damit sie nicht erkannt werden könne.

Die Angst ist berechtigt: In Mingora ist eine größere Kreuzung inzwischen als "Khooni Chowk" - Blutige Kreuzung - bekannt. Denn Tag für Tag wurden dort enthauptete Leichen deponiert, jeweils zwei oder drei. An den Leichen befestigte Zettel beschuldigten die Opfer der "Spionage" oder anderer Verbrechen und warnten davor, die toten Körper vor Ablauf einer bestimmten Zeit zu entfernen.

Weltweit sind 45 Prozent der Flüchtlinge und Asylwerber unter 18 Jahre alte Kinder und Jugendliche. Besonders auch die Flüchtlingskinder aus dem Swat-Tal leiden unter dem Erlebten, viele haben Albträume. "Wenn sie Hubschrauber oder bewaffnete Männer sehen, schreien und weinen sie", berichtet Shabana, die ihre zweijährige Tochter in den Armen wiegt. Eine ihrer Töchter habe in einer der Nächte das Zelt verlassen. Erst nach langer Suche fand ein Nachbar das verängstigte Kind.

Die Kinder verstehen nichts von den Hintergründen der Kämpfe zwischen Islamisten und Armee. Sie plagen Sorgen um ihre Familien. Die zwölfjährige Nabila Bibi im Lager Yar Hussain trauert aber auch noch um ganz andere Freunde, die sie zurücklassen musste: "Ich fühle mich allein, weil meine Puppen nicht bei mir sind."

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