Fotoalbum der Falschheit

19451960198020002020

Tim Pears erzählt Aufstieg und Fall einer Fabrikantenfamilie in sprachlichen Momentaufnahmen.

19451960198020002020

Tim Pears erzählt Aufstieg und Fall einer Fabrikantenfamilie in sprachlichen Momentaufnahmen.

Werbung
Werbung
Werbung

Über den ersten 200 Seiten des Familienromans "Land der Fülle" des englischen Autors Tim Pears fühlt man sich an Besuche erinnert, bei denen nach dem ersten Kaffee ein Stapel von Fotoalben ausgepackt wird und man zu den Bildern von Menschen, die man weder kennt noch kennenlernen will, endlose Geschichten erzählt bekommt.

Es sind Momentaufnahmen der britischen Fabrikantenfamilie Freeman, die sich nur spröde zu einer Geschichte fügen. Der bärenstarke, bullige Vater, der mit Fleiß und Geschick an seinem Imperium baut. Die sensible, unglückliche Mutter von vier Kindern, die nach und nach in Wohlstand und Nichtstun erstickt. Die Kinder mit ihren ausgeprägten Spleens und kargen schulischen Erfolgen. Köchin und Gärtner in einem Anwesen wie aus einer Seifenoper.

Der Held des Romans ist der dünnhäutige James, der schon als Bub beginnt, sich die Welt mit Hilfe einer Kamera vom Leib zu halten. Er fotografiert mit ebensoviel Ernst wie Eifer und flüchtet so in seine eigene Realität. Denn die seiner Familie ist alles andere als idyllisch. Die Mutter beginnt just an dem Tag, an dem sie ihren Mann verlassen will, mit dem Schlafwandeln und fällt mit halbgepacktem Koffer aus dem Fenster ihres Schlafzimmers. Zwei Brüder lieben die Tochter der Köchin, deren Vater sie halbtot prügelt, als sie von einem der beiden ein Kind erwartet. Der tüchtige Älteste tritt beruflich in die Fußstapfen des Vaters, verschwindet aber immer wieder zu Schwulen-Festen, und auch das Fabriksimperium beginnt zu wanken.

Die Spots aus der Familiensaga verdichten sich und entwickeln immer mehr Dynamik, in der letztendlich die Katastrophe ihren Lauf nimmt. Aus den Momentaufnahmen werden bewegte und bewegende Bilder, und plötzlich sitzt man im Kino (das auch im Roman eine wichtige Rolle spielt) und wartet gespannt auf die nächste Szene des Films.

Während die Sujets des Romans in vielen Details pures Klischee sind - der hektische, selbstherrliche Unternehmer, jovial aber herzlos, die ausgebeuteten Arbeiter, die immer ungerechter behandelt werden und auf die Barrikaden gehen, die Hippies, die in der Stadt campieren, eine weltreisende Cousine, die das alte Kino vor den Baggern der Straßenbauer retten will: Das alles ist aber sowohl durch die Konstruktion der Bilder, die nach und nach laufen lernen, als auch durch die Verbindung von Bild und Sprache, die dem Autor tatsächlich glückt, interessant. James, der Fotograf, fürchtet, den Menschen zu nahe zu kommen, weil sie dann verschwommen sind. Er braucht Distanz, um zu beobachten und flüchtet in die Dunkelkammer, um die Bilder in der Kamera und im Kopf zu ordnen. Er lernt die Menschen erst durch die Linse richtig kennen. Und so wie der Autor - der Chronist - für die Nachwelt berichtet, landen die Fotos von James nach dessen Tod in der Stadtbibliothek, wo sie für die Nachwelt sortiert und beschriftet werden. Sie bezeugen Aufstieg und Fall der Familie, Glück und Katastrophen, an die sich bald niemand mehr erinnern würde. Und sie dokumentieren die rasante Veränderung der Stadt und des Lebens, die auch bald vergessen wäre.

Wer sich durch die Anfangsbilder durchbeißt, und - wie bei einem Fotoalbum - die Geduld aufbringt, die Bilder durch Interesse zum Leben zu erwecken, findet schließlich einen recht unterhaltsamen, spannenden Roman, dessen Qualität in einigen unvergeßlichen Momentaufnahmen liegt, die der Autor gekonnt sprachlich fotografiert hat. Bei genauem Betrachten wird hinter der Familienidylle die schleichende Falschheit und Grausamkeit deutlich, die sich auch hinter gesellschaftlichen Ritualen und Reichtum nicht auf Dauer verbergen läßt.

Land der Fülle Roman von Tim Pears, Übersetzung: Gloria Ernst, Blanvalet Verlag, München 1998, 700 Seiten, geb., öS 330,- /e 23,98,

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung