Frankensteins Wien anno 26

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Der Thriller-Autor Mathews kann einem die Ruhe rauben.

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Der Thriller-Autor Mathews kann einem die Ruhe rauben.

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Wenn ein Engländer einen Kriminalroman im bereits leicht fortgeschrittenen 21. Jahrhundert ansiedelt und literarische Ränke um Genmanipulation und Neonazis schmiedet, wird das bei der Leserschaft keine große Überraschung auslösen. Düstere Utopien haben Tradition, besonders in der angloamerikanischen Literatur. George Orwell und Aldous Huxleys Visionen sind mittlerweile Klassiker. Wenn ein englischer Schriftsteller aber als Schauplatz für seinen schaurigen Ausblick ausgerechnet Wien wählt, macht das schon ein wenig stutzig - und neugierig.

"Wiener Blut" ist der zweite Roman von Adrian Mathews und sein Debüt am deutschsprachigen Markt. In London geboren, studierte er in Cambridge und lehrt derzeit englische Literatur in Paris, macht also eine so richtig europäische Karriere. Dass er sich offenbar auch gern in Wien aufhält, beweist seine fundierte Ortskenntnis, die er allerdings manchmal ein wenig zu dick aufträgt. Aber auch das kann der Qualität des Romans nicht wirklich schaden.

Die Handlung ist auf den ersten Blick eine futuristische Kriminalgeschichte. Im Wien des Jahres 2026 wird im Prater ein Computerfreak überfahren. Der Lenker verschwindet spurlos und die Witwe des Opfers bittet den Journalisten Sharkey, eine Zufallsbekanntschaft und einer der wenigen "Freunde" des genialen, aber menschenscheuen Hackers, die Umstände dieses mysteriösen Unfalls aufzuklären, den sie schlicht und einfach für einen Mord hält. Die Fahrerflucht scheint ihre Theorie natürlich zu untermauern.

Sharkey geht der Sache nach und macht so manche unangenehme Entdeckung bei seinen Streifzügen durchs Internet und durch die Stadt, in der die Gemütlichkeit und Heurigenseligkeit mittlerweile endgültig ausgestorben und beinharter Geschäftemacherei gewichen sind. Das Kaiserlüfterl hat ausgeweht, Gentechnik und Cyberspace beherrschen die Welt bis in die kleinsten Alltagsangelegenheiten. Wien ist auf den ersten Blick eigentlich vor allem Kulisse, der Roman könnte fast ebensogut in New York, Paris oder in jeder beliebigen westlichen Großstadt spielen. Eine Kulisse allerdings, die durch ihre Geschichte einerseits als starker Kontrast zum Romangeschehen wirkt, andererseits aber auch durch ihre NS-Vergangenheit die unheimlichen Assoziationen liefert. Außerdem wird damit möglicherweise auf die Urspünge der Gentechnik angespielt, schließlich war der Vater der Vererbungslehre, der Ordenspriester und Biologe Gregor Johann Mendel, auch ein Österreicher.

Ohne Schwarz-Weiß-Malerei oder plakative Weltverschwörungstheorien ist Adrian Mathews ein mitreißender Thriller gelungen. Der Autor setzt sich auf mehreren ethischen und philosophischen Ebenen mit der Genforschung und ihren Folgen auseinander, hält aber dabei den Leser von der ersten bis zur letzten Seite im wahrsten Sinn des Wortes gefangen. "Wiener Blut" ist ein Roman, der konkrete Fragen der Gegenwart und Zukunft verarbeitet, statt in unrealistische Agentenstories zu flüchten oder die Leser mit gespenstischem Grusel der Stephen-King-Machart in Bann zu schlagen.

Mathews konfrontiert den Leser unter anderem mit gänzlich veränderten Gesellschaftsstrukturen. Das Modell Familie hat ausgedient - zumindest in deren biologischer Funktion. Die genetischen Verwandtschaftsverhältnisse sind gänzlich undurchschaubar geworden und die Inzucht blüht wie in alten Adelsfamilien, nur eben nicht immer gewollt. Die Neonazis haben sich mit der Gentechnik einstweilen noch nicht verbündet, im Gegenteil, aber das ist alles nur eine Frage der Zeit, Menschenversuche passen ja wohl ganz gut in ihre Ideologie. Vor diesem Hintergrund schwingt im Titel "Wiener Blut" natürlich eine ganze Palette von Bedeutungen und Assoziationen mit. Die Vampire des 21. Jahrhunderts bewohnen nicht mehr Gruselschlösser inmitten dunkler Wälder, sondern schicke Vorstadtvillen, und Frankensteins Kreaturen treten nicht nur unauffällig und zivilisiert auf, sondern haben auch viele Geschwister bekommen, die für ihre Klonexistenz aus allerbestem Grundmaterial eigentlich ein Leben lang dankbar sein sollten.

Es liegt in der Natur der Utopie, dass sie den tatsächlichen wissenschaftlichen Experimenten und Errungenschaften und deren Missbrauch ein Stück vorauseilt. Das Unheimliche ist, dass sie von der Wirklichkeit immer öfter eingeholt wird. Trotzdem ist Mathews auch das Kunststück gelungen, jede pseudokonservative Fortschritts- oder Wissenschaftsverdammung zu vermeiden. Sein Text ist kein plattes Kasperltheater der Hölle Zukunft, auch wenn man in dieser Romanwelt nicht unbedingt leben möchte. Und auch die zahlreichen historischen Anspielungen sind subtil in den Text eingebaut und keineswegs plakativ. So stecken in den weißen Mänteln der Gentechniker weder geldgierige Psychopathen noch giftig-fanatische Reinkarnationen des KZ-Arztes Josef Mengele.

Die Emotionen des Lesers werden zuweilen in den Zwiespalt gedrängt, in dem sich der Autor möglicherweise selbst befindet, und die Tatsache, dass so mancher böse Wissenschaftler - o Schreck! - sympathisch ist und weder Verwirrung noch Unglück stiften wollte, macht wohl manchen Leser empfänglich und hellhörig für die Grundsatzdiskussionen und Überlegungen, die den Roman ebenso durchziehen wie den öffentlichen Diskurs. Die Wissenschaftler wollten lediglich sämtlichen Erbdefekten den Krieg erklären, auf dass die Menschheit sich in Zukunft mit weniger Krankheiten herumzuschlagen habe. Jedes Problem hat eben viele Seiten und jede Problemlösung unerwünschte Nebenwirkungen. Die Welt ist einfach kompliziert, und wer nie seine Meinung ändert, der denkt wohl einfach zu wenig nach.

WIENER BLUT Roman von Adrian Mathews Übersetzung: Chris Hirte Eichborn Verlag, Franfurt/M. 2000 382 Seiten, geb., öS 279/e 20,34

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