Fremd geworden im eigenen Land

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Trist ist die Lage der ethnischen Minderheiten in Yunnan, der südwestlichsten Provinz Chinas. Seit dem 14. Jahrhundert werden sie, die ursprüngliche Bevölkerung des Landes, in entlegene Regionen abgedrängt. Heute sehen sie sich durch die ehrgeizigen "marktwirtschaftlichen" Pläne Chinas zusätzlich dem Modernisierungsdruck ausgesetzt. Ein Lokalaugenschein, 50 Jahre nach Gründung der Volksrepublik.

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Trist ist die Lage der ethnischen Minderheiten in Yunnan, der südwestlichsten Provinz Chinas. Seit dem 14. Jahrhundert werden sie, die ursprüngliche Bevölkerung des Landes, in entlegene Regionen abgedrängt. Heute sehen sie sich durch die ehrgeizigen "marktwirtschaftlichen" Pläne Chinas zusätzlich dem Modernisierungsdruck ausgesetzt. Ein Lokalaugenschein, 50 Jahre nach Gründung der Volksrepublik.

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Ein Konvoi aus vier schweren Allradwägen quält sich den Berg hinauf. Die Straße - nicht mehr als ein Karrenweg mit unzähligen Schlaglöchern - stellt die einzige Verbindung zum Dorf Sa-Shu dar. Dort, auf 2.500 Meter Seehöhe im Zentralgebirge Yunnans, leben 1.100 Angehörige des Yi-Volkes. Die insgesamt 6,57 Millionen Yi sind eine der 24 ethnischen Minderheiten dieser Provinz. 34 Prozent der rund 40 Millionen Einwohner Yunnans gehören einer Minderheit an. Den größten Teil der Bevölkerung bilden allerdings die später eingewanderten Han-Chinesen, die üblicherweise gemeint sind, wenn von "Chinesen" gesprochen wird. Doch in China leben noch weitere 55 Volksgruppen, die zwar nur knapp neun Prozent der Bevölkerung ausmachen, sich aber über 62 Prozent der Landesfläche verteilen.

Wassertanks Im Dorf Sa-Shu wird der Allrad-Konvoi bereits erwartet: Grundschüler stehen Spalier und klatschen auf ein Signal hin den ausländischen Gästen zu. Große Augen machen die Kinder, als sie drei Europäer unter den Besuchern entdecken. In diesem Dorf, zwei Stunden von der nächsten Asphaltstraße entfernt, ist niemals zuvor ein Nicht-Chinese aufgetaucht. Auch den Erwachsenen sind die Ausländer nicht vertraut. Viele reagieren scheu, vor allem als versucht wird, zu fotografieren. Eine Kapelle spielt einheimische Musik zum Empfang. Für europäische Ohren klingt die Mischung aus Schellen, Trommeln, Trompeten und einer sechspfeifigen Flöte, dem Dudelsack nicht unähnlich, höchst ungewohnt, wenn auch durchaus reizvoll. Die Delegation wird gebeten, an einer Tafel Platz zu nehmen, der Dorfvorsteher hält eine Dankesrede. Wir, die Europäer, sind Mitarbeiter der Dreikönigsaktion und der "Margareta Weisser Stiftung für indigene Völker in Asien" und wollen Möglichkeiten einer künftigen Projektzusammenarbeit sondieren. Im Dorf wurden erst jüngst mit deutschen Hilfsgeldern fünf Wassertanks errichtet. Unsere Begleiter vom katholischen Social-Service-Macau haben dieses Projekt koordiniert und prüfen nun die Ergebnisse.

Vertreter der lokalen Behörde sind auch in unserer Gruppe, teils aus Gastfreundschaft, teils weil sie an der Projektdurchführung beteiligt waren, teils wohl zur Kontrolle, zuletzt aber auch, weil ein solcher Besuch mit Ausländern ihr eigenes Prestige bei der einkommensschwachen Bevölkerung erhöhen könnte. Ohne Konvoi und Delegation zu reisen, würde erlauben, näher an der "Graswurzel-Ebene" zu sein, aber in China ist das noch immer nicht möglich. Die Begleitung durch Behördenvertreter schafft freilich eine kaum überbrückbare Distanz zu den Dorfbewohnern.

"Hier auf den Höhenzügen der Berge gibt es nur wenig Wasser, das bislang von den jungen Männern zu Fuß herbeigeschafft wurde. Nun fließt es aus den wenigen Quellen über eine Wasserleitung zu den fünf Wassertanks ins Dorf hinein", erklärt die Dorfvorsteherin Yu Zhong Mai die Vorteile der neuen Wasserversorgung. Keine Frage, das Projekt kommt den Wünschen der Bevölkerung sehr entgegen. Erstens senkt sauberes Trinkwasser die Kindersterblichkeit und verbessert den allgemeinen Gesundheitszustand im Dorf. Zweitens aber müssen die jungen Männer nicht mehr zum Wasserholen abgestellt werden. Sie haben nun mehr Zeit für die Feldarbeit und andere Tätigkeiten. "Viele von ihnen wollen hinunter ins Tal oder in eine der nicht allzuweit entfernten Kleinstädte, um sich als Saisonarbeiter etwas dazu zu verdienen", erläutert Frau Yu. Das Jahreseinkommen einer Familie hier oben im Gebirge beträgt etwa 200 Renminbi, das entspricht 140 (!) österreichischen Schillingen; das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen der Bauern dieser Provinz liegt mit rund 1.000 Renminbi doch deutlich darüber. Wenn die Jungen wenigstens zeitweise arbeiten gehen können, wird dieses Einkommen erhöht.

Mit so wenig Geld auszukommen, ist auch in China unvorstellbar. Doch die Bergbevölkerung lebt hauptsächlich von der Subsistenzlandwirtschaft und ist daher für ihre Ernährung nicht auf ein Bareinkommen angewiesen. "Schwierig wird es allerdings, wenn Schulkosten für die Kinder oder Arzneikosten im Krankheitsfalle zu entrichten sind", gibt die Dorfvorsteherin zu bedenken. Im offiziell immer noch kommunistischen China ist man weit davon entfernt, diese Sozialleistungen gratis zu erbringen. Im Durchschnitt wendet jede Familie in Yunnan 15 Prozent ihres Einkommens für die Schulbildung der Kinder auf. Mit dem kapitalistischen Schwenk der letzten Jahre schwinden Hoffnungen auf eine Erhöhung der Sozialleistungen.

Im Gespräch mit den Dorfbewohnern wird deutlich, daß der Fortschritt auch seine Kehrseite hat. "Es hat unser Leben erleichtert, wenn nun die jungen Männer arbeiten gehen können", betont eine Bäuerin. Einige aber verweisen darauf, daß dadurch die Abwanderung aus den Bergen begünstigt wird. Zurück bleiben dann immer Frauen, Kinder und Betagte. Das stärkt in der ohnehin patriarchalen Tradition der Yi die Männer unverhältnismäßig. Die Jungen werden zwar zum Heiraten dauerhaft zurückkommen, aber nur, wenn die emotionalen Beziehungen zu ihrem Heimatdorf lebendig bleiben.

Bienen in Panier Abendessen bei Zhao Zhu Wan, dem Vorsitzenden des Bezirks-Volkskongresses. Neben den üblichen vielfältigen Fleisch- und Gemüsegerichten werden Erdäpfel in sieben verschiedenen Zubereitungsarten aufgetischt. Die Yi ernähren sich vor allem von dieser Erdknolle, aus der Brezel, Zöpfe, Knöpfe, Würstel und allerlei andere Variationen kreiert werden. Dazu gibt es dann noch die gebackenen Bienen - ein besonderer Leckerbissen. "China setzt sich sehr für die Erhaltung der Kultur der ethnischen Minderheiten ein", betont Herr Zhao. "Bislang wurden zwölf Minoritäteninstitute in ganz China eröffnet, in denen Kultur und Geschichte dieser Völker erforscht und dokumentiert werden. Außerdem werden dort Kader und Intellektuelle für die ethnischen Minderheiten ausgebildet, die, wenn möglich, selbst Minderheitenangehörige sind." Experten stellen aber häufig die Frage, ob diese Minderheiteninstitute nicht der subtilen Sinisierung, also der Integration in die Kultur der Han-Mehrheit, dienen. Die frisch herangebildete Elite versteht die Sprache des dominanten Systems und droht zu einem Instrument der Sinisierung und damit der kulturellen Auslöschung der Minderheiten zu werden. Solche kritischen Einwände können beim offiziellen Empfang allerdings nicht geäußert werden. Herr Zhao sieht für die Minderheiten große Chancen in der Entwicklung des Tourismus. Die farbenfrohe Folklore einiger dieser Gruppen lockt schon jetzt jährlich tausende ausländische Gäste nach Yunnan. Doch wie in vielen anderen Tourismusregionen sind Befürchtungen nicht unangebracht: Zwar wird der Tourismus für die immerwährende Wiederholung traditioneller Rituale sorgen, die darin ausgedrückte kulturelle Befindlichkeit geht jedoch verloren, und die Betroffenen - zu "Kulturprostituierten" geworden - bleiben auf der Strecke.

Auch die chinesische Sprachenpolitik wird von Kritikern als fragwürdig betrachtet. Als wir uns nach der Unterrichtssprache in den Volksschulen der Minderheiten erkundigen, erklärt uns Herr Luo, ein für das Bildungswesen zuständiger Beamter: "Muttersprachlicher Unterricht ist nur solange nötig, bis die Schüler einigermaßen Mandarin, die offizielle Staatssprache, beherrschen." Dies dient freilich ebensowenig der Erhaltung der Minderheiten-Kulturen wie der Erleichterung des Fremdsprachenerwerbs: Aus der Didaktikforschung ist bekannt, daß nur auf Basis der Erfahrungen beim Erlernen der eigenen Sprache Fremdsprachen gut angeeignet werden können.

Sinisierung Doch Ziel und Erfolg der Bildungspolitik sind ohnehin zweierlei. "In weiten Regionen Chinas wenden die Eltern weiterhin ihr Geld lieber für religiöse Opfer als zur Bestreitung der Schulkosten ihrer Kinder auf", so der Beamte weiter. "Wir führen dort einen Kampf gegen kulturelle Ignoranz." Man könnte diese Verweigerung auch als höchst unaufwendige Form des kulturellen Widerstandes gegen die Sinisierung verstehen. "Wenn wir die Kinder dauerhaft in einer anderen Sprache unterrichten würden, dann gefährdet das ja die nationale Einheit Chinas!" befürchtetet Herr Luo. Die Separatismusbewegungen in den Provinzen Tibet und in Xinjiang erregen große Sorgen unter den Han-Chinesen. Man fürchtet ein Übergreifen der allzu großen Autonomieforderungen auch auf andere Minderheiten. Während aber jede Stärkung von Minderheiten innerhalb Chinas als "separatistisch" verdächtigt wird, intervenierte die Volksrepublik Jahre hindurch im benachbarten Ausland und unterstützte bis in die späten achtziger Jahre bewaffnete separatistische Bewegungen im Nordosten Indiens.

Nicht zuletzt handelt es sich wohl kaum um einen Zufall, wenn in China stets nur von "Minderheiten", nie aber von "indigenen Völkern" gesprochen wird. Letzteres würde den betroffenen Gruppen ein historisches Vorrecht in bezug auf die Landbesiedlung zugestehen und müßte im politischen Alltag seinen Niederschlag finden. Sicherlich wird man nur einige der Minderheiten als "indigene Völker" im üblichen Sinn bezeichnen können - also nicht nur als Gruppen, die bereits vor den Han-Chinesen das Land besiedelten, sondern auch als solche, die kulturell und sozioökonomisch völlig andersartig sind als letztere. In Yunnan trifft dies etwa auf die Wa, Jingpo, Bulang, Nu, De'ang, Lisu und Jinue zu. Sie pflegen auch heute noch ihre Initiationsriten und haben teilweise sogar Schamanen, die über ihre alten Riten wachen.

Hotels & Banken In der Provinzhauptstadt Kunming wird die politische Energie nicht in die Minderheitenfrage investiert, sondern an Details der ehrgeizigen Modernisierungspläne gefeilt. Kunming gleicht, wie derzeit fast alle chinesischen Städte, einer riesigen Baustelle. Die meisten Großbauten sind Hotels oder Banken, die schon jetzt das Stadtbild prägen. Noch vor zehn Jahren gab es in Kunming keine Hochhäuser, heute prägen sie die 1,5 Millionen Einwohner zählende Stadt. Jene bunten Kostüme, die auf die Vielfalt der Völker Chinas hinweisen, sind ebenfalls schon jetzt kaum mehr auszumachen. Wenn Angehörige einer Minderheit im Straßenbild von Kunming auffallen, dann höchstens als Straßenhändler oder Bettler.

Der Autor ist Fachreferent der "Margareta Weisser Stiftung für indigene Völker in Asien".

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