Fremdes Land des Schreibens

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Für 300.000 erwachsene Österreicherinnen und Österreicher bleibt das ABC - trotz Schulbesuchs - ein Buch mit sieben Siegeln:Sie sind funktionale Analphabeten. Vier Weiterbildungseinrichtungen wollen diese Lücken schließen.

Die Zeitung bleibt ohne Sinn, die Gebrauchsanweisung ein Rätsel, das Buch ein Mysterium: Trotz bestehender Schulpflicht sind in Österreich 300.000 Erwachsene - drei Prozent der erwachsenen Bevölkerung - funktionale Analphabeten: Sie haben Schwierigkeiten, Alltagstexte zu lesen, zu schreiben und zu verstehen. Ihre fehlenden Kompetenzen verhindern, dass sie im privaten Bereich und im öffentlichen Leben allein zurechtkommen. Grund genug für das neu gegründete Netzwerk Alphabetisierung.at, eine bundesweite Initiative zur Bekämpfung dieser Defizite zu starten.

Spirale der Scham

Mittlerweile bieten vier Einrichtungen in Österreich Alphabetisierungskurse für Erwachsene - die jüngsten sind erst 16 Jahre alt - an. In der geschützten Umgebung der Kurse beenden sie die leidvolle Spirale aus Scham und Versagensängsten und betreten "das fremde Land des Schreibens", wie eine Salzburger Kursteilnehmerin diesen Schritt bezeichnet.

Wie kann es aber so weit kommen, dass Menschen neun Jahre lang Schulen besuchen und danach weder Wegweiser noch Hinweisschilder oder Beipackzettel von Medikamenten entziffern noch Formulare ausfüllen können? "Wie kann das passieren, das können doch Volksschüler!", lautet die Empörung derer, die das Leid der Analphabeten nicht kennen. Brigitte Bauer, Volksschullehrerin, Erwachsenenbildnerin und Geschäftsführerin des Salzburger Vereins "abc - Lesen und Schreiben für Erwachsene" zählt eine Vielfalt an Gründen auf, die sie aus den Biografien ihrer Schüler kennt: Einer war als Kind ungeliebt und wurde wenig beachtet - die Eltern waren zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Bei einer anderen ist die Lernschwäche inmitten von sieben Geschwistern nicht aufgefallen. Wieder ein anderer wurde zu früh eingeschult - und danach zu wenig gefördert. Typisch ist auch Evas Geschichte: Während der ersten beiden Volksschuljahre sind ihre Eltern häufig umgezogen, die Rechen-, Schreib- und Lesekenntnisse konnten sich nicht festigen. Eva konnte dennoch weiter aufsteigen - sie hat den Lehrern einfach Leid getan.

Schon die Telefonnummer des Salzburger Vereins "abc" trägt den Defiziten der potenziellen Kursteilnehmern Rechnung - 0699/ 10102020. Wer dann beschließt, den Weg in die Auerspergstraße 15 zu wagen, um endlich die "Stunde der Wahrheit" einzuläuten, dem begegnet man mit Respekt und Diskretion - oft zum ersten Mal im Leben. Hier kann man offen von langjährigen Verdeckungsmechanismen erzählen - und von den persönlichen Zielen im Bereich der Schriftsprachlichkeit. "Funktionale Analphabeten sind über Jahre vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen, sie isolieren sich, geraten in Abhängigkeiten von ihren Helfern und entwickeln ein negatives Selbstbild", erzählt Brigitte Bauer gegenüber der Furche. "Bei unseren Erstgesprächen bemerken wir, dass Selbstbild der Teilnehmer und reales Können oft auseinderklaffen. Beim Schreiben erkennen sie, dass sie Grundkenntnisse haben, intelligent sind, etwas lernen können." Das Bild von funktionalen Analphabeten in der Öffentlichkeit ist freilich ein ganz anderes: Sie werden oft als Menschen gesehen, die in desolaten Verhältnissen leben. Zu Unrecht, weiß Bauer: "Bei uns lernen auch Menschen mit Meisterprüfung Lesen und Schreiben - bis jetzt haben sie das Ausstellen der Rechnungen oder Angebote eben an andere delegiert. Es ist ihr Wunsch, diesem Verstecken ein Ende zu bereiten und aus der Schamspirale - ich kann etwas nicht und niemand darf das merken - auszusteigen."

Nach einem Semester Einzelunterricht - einmal pro Woche zwei Stunden lang - wird in Kleinstgruppen unterrichtet. Nach drei Jahren haben die Lernwilligen ihre Ziele erreicht. Michael, 16 Jahre alt, war bereit, drei Mal in der Woche dreißig Minuten zu schreiben oder seine Adresse zu buchstabieren. Auch über seine Schulzeit reflektiert er - schriftlich: "Beim Lesen in der Schule hab ich mir immer schwer getan. Aber meine neun Jahre habe ich schnell abgesessen." Viele Teilnehmer beschreiben auch ihre Ängste bei der Familiengründung: "Man hat Angst, dem Kind beim Lernen zu helfen. Man möchte helfen, kann aber nicht."

Was ist groß, was klein?

Am Schreibtisch von Brigitte Bauer steht auf einem Zettel "der andere" - mit Fragezeichen. Wofür das gut sein soll? "Die Schülerinnen und Schüler wollen jetzt halt auch wissen, warum sie der andere' klein und der Einzelne' groß schreiben müssen", erklärt Bauer. Das einst fremde, unwegsame Land der Schriftsprache wird nun besonders kritisch bereist.

Nähere Informationen

unter www.alphabetisierung.at, beim Verein "abc" unter (0699) 10102020 und www.abc.salzburg.at, bei der VHS Floridsdorf in Wien unter (01) 2724353-14, beim Grazer Verein ISOP unter (0316) 764646-20 und bei der

VHS Linz unter (0732) 7070 4326.

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