Fühlt euch wie zu Hause!

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Für den Gründer der Gemeinschaft von Taize, Roger Schutz, ist auch beim Wiener Taize-Treffen klar: Die Jugendlichen kommen, um ihren Durst nach Lebenssinn zu stillen.

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Für den Gründer der Gemeinschaft von Taize, Roger Schutz, ist auch beim Wiener Taize-Treffen klar: Die Jugendlichen kommen, um ihren Durst nach Lebenssinn zu stillen.

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Wien, Silvesterabend: Menschenmassen drängen in die Innenstadt. Aus riesigen Lautsprechern ertönt Rockmusik, jung und alt tanzen in angeheitertem Zustand. Der Stephansdom ist aus Angst vor Randalierern längst zugesperrt.

Nur hundert Meter vom Silvesterpfad entfernt, in der Franziskanerkirche, herrscht absolute Stille. Das Gotteshaus ist zum Bersten voll. Dicht aneinandergedrängt kauern die Jugendlichen auf dem kalten Steinboden. Manche knien lang hingestreckt, sodaß die Stirn den Boden berührt, und drücken damit aus, daß sie sich ganz Gott hingeben möchten. Es ist finster. Nur im Altarraum flackern kleine Herzen. Im Lichtschein ist eine Kreuzikone erkennbar. Nach minutenlanger Stille setzen die meditativen Gesänge ein. Die einfachen Lieder aus Taize hallen von den Gewölben der Kirche wider und entfalten ein Klima des Vertrauens und der Harmonie. Der Beter wird ruhig, vergißt jegliches Zeitgefühl und versinkt ganz in Gottes Gegenwart. Dazwischen werden in verschiedenen Sprachen Bibeltexte vorgelesen. Mit der Vielfalt erschließt sich gleichzeitig auch die Einheit in Christus, man erfährt etwas von der Universalität der Kirche.

Wenige Minuten vor Mitternacht: Ein Meer von Glasscherben überzieht den Stephansplatz. Die Polizei sperrt aus Sicherheitsgründen die U-Bahn-Station. Der Lärm der Böller und Krachmacher ist ohrenbetäubend.

Auch in der Franziskanerkirche ist die Stimmung am Höhepunkt. Die Taize-Teilnehmer singen den Kanon "Lobet den Herrn, alle Völker" und ziehen lachend aus der Kirche. Beim ersten Glockenschlag fallen sie sich freudig in die Arme und wünschen sich ein gutes neues Jahr. Jeder redet mit jedem. Sprachbarrieren sind kein Hindernis. Ein Engländer holt sein Handy aus der Tasche, gibt es einem Rumänen, damit dieser in Bukarest seine Eltern anrufen kann. Fünf Italiener laufen in die nächste Bar, kaufen zwei Flaschen Sekt und stoßen mit den Polen an. Als der Inhaber des Lokals das sieht, kommt er mit noch einer Flasche: "Die braucht ihr aber nicht bezahlen. Prosit Neujahr." Eine junge Französin ist begeistert: "Es ist einfach toll. In Christus sind wir alle eine große Familie."

Keine Scheinwelt Fünf Tage lang war Wien wie verwandelt. Über 80.000 Jugendliche aus allen Ländern Europas haben die Stadt geprägt. Wo man hinsah: Unzählige Gruppen junger Menschen mit ihren großen Rucksäcken, ein wenig müde, aber trotzdem fröhlich und unkompliziert. Sie sangen in den Straßenbahnen religiöse Lieder. In den U-Bahn-Stationen fragten sich Passanten, warum die Ansagen auf einmal in fünf Sprachen durchgegeben werden. Schnell entwickelten sich Gespräche über Taize, über Religion und über Gott. Selbst jenen Wienern, die sich schon lange von der Kirche verabschiedet haben, wurde klar: Bei Taize geht es um keine süßliche, abgehobene Frömmigkeit, sondern um die Umsetzung der christlichen Botschaft in die heutige Lebenswelt, wobei die Jugendlichen selbst das beste Zeugnis abgeben.

Gerade die kleinen Begegnungen am Rande des Treffens bleiben lange in Erinnerung. Heinrich Kecke aus Leipzig: "Die Organisatoren von der Hernalser Pfarre haben uns einfach den Schlüssel und die Adresse einer Wohnung gegeben, obwohl wir die Inhaber gar nicht kannten." Als die beiden dort ankamen, lag auf dem Küchentisch ein Zettel: "Wir sind leider in der Arbeit. Fühlt euch wie zu Hause. Essen steht im Kühlschrank." Silvia Beck, eine 43jährige Ärztin aus Baden: "Ich fuhr mit der Schnellbahn nach Hause. Neben mir saßen zwei Mädchen aus Karlsruhe. Ich hörte, daß sie in der Turnhalle schlafen sollten. Da lud ich sie in meine Wohnung ein." Zweimal täglich fuhren die 80.000 Teilnehmer mit öffentlichen Verkehrsmitteln zum Gebet ins Messegelände. Ein Großaufgebot von Polizisten und Hunderte zusätzliche Mitarbeiter der Verkehrsbetriebe hatten alle Hände voll zu tun, um den Massenansturm zu bewältigen. "Eigentlich war ich sauer, weil ich zu Neujahr arbeiten mußte", gestand der Schaffner Rudolf König. "Doch Dank der vorbildlichen Disziplin der Teilnehmer gab es keine Probleme. Und endlich war in Wien einmal ordentlich etwas los."

Was macht die Faszination eines solchen Jugendtreffens aus? Für Frere Roger, dem Gründer von Taize, ist die Antwort völlig klar: "Die Teilnehmer werden in ihrem Durst nach dem Sinn des Lebens gestillt. Sie erfahren Christus, der sie in ihrem Innersten berührt." Bauen sie sich dabei keine Scheinwelt auf? Frere Roger lächelt: "Aber nein. Die Jugendlichen sind sehr kritisch und stellen an sich, an die anderen und an die Kirche sehr hohe Anforderungen. Bei uns wird niemand gezwungen, eine Lehre anzunehmen." Frere Roger macht es nichts aus, wenn einige statt dem Gebet in Wien eine Stadtbesichtigung bevorzugt haben: "In völliger Freiheit soll sich jeder auf Christus einlassen. Wenn jemand von ihm überzeugt ist, kommt er gerne zum Gebet."

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