"Für diese Arbeit muss man ja dankbar sein"

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Physiker Herbert Pietschmann über kommunikationsgestörte Wissenschaftler, das Erfolgsgeheimnis von Lehrern und den kulturellen Verlust der Aporie. | Das Gespräch führte Wenzel Müller

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Physiker Herbert Pietschmann über kommunikationsgestörte Wissenschaftler, das Erfolgsgeheimnis von Lehrern und den kulturellen Verlust der Aporie. | Das Gespräch führte Wenzel Müller

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Als Wissenschaftler hat Herbert Pietschmann immer auch über den Tellerrand seines eigenen Faches hinausgedacht. Die FURCHE traf den 80-jährigen Professor emeritus zum Rück- und Ausblick in Sachen Bildung und Wissenschaft.

DIE FURCHE: Sie haben sich schon mit 30 Jahren habilitiert: War die Lehre da nicht ein Sprung ins kalte Wasser? Ein Universitätsprofessor muss fachliche, aber kaum didaktische Fähigkeiten mitbringen ...

Herbert Pietschmann: Meine Professur fiel ins Revolutionsjahr 1968, in die Zeit, als sich die Studierenden nicht mehr alles bieten ließen. Und gerade mich, der kaum älter als sie war, hatten sie aufs Korn genommen. Ihr Vorwurf lautete: Weil ich meine Vorträge so anschaulich halte, glaubten mir die Studierenden alles vorbehaltlos, ohne selbst darüber nachzudenken -das sei nicht der richtige Bildungsvorgang. Und sie hatten Recht! Daraufhin habe ich meine Lehrmethode grundsätzlich überdacht. Eine Zeitlang bin ich ins andere Extrem verfallen, ließ die Studierenden nur noch selbst lernen, aber das war genauso schlecht. Es liegt hier eine Aporie vor, leider ist dieses Wort in unserer Kultur in Vergessenheit geraten: ein Widerspruch, der nicht nach einer Seite aufgelöst werden kann. Die Aporie beim Lernen ist die zwischen Lehren im Sinne von Wissensvermittlung und Anleitung zum Selbstlernen. Beides für sich genommen ist unsinnig. Bloße Wissensvermittlung führt zu einem toten Merkwissen, und Selbstlernen ohne Wissensvermittlung zur bloßen Spielerei.

DIE FURCHE: Was haben Sie dann in Ihrem Unterricht anders gemacht?

Pietschmann: Das Unangenehmste war das normale Prüfen, denn das hieß Wissen abfragen. Im Bereich der Theoretischen Physik ist es sicher unsinnig, Wissen abzufragen. Denn wenn wer irgendwelche Formeln hinschreiben kann, heißt das ja noch nicht, dass er irgendetwas verstanden hat. Ich habe viel herumexperimentiert und dann eine Lösung gefunden, die sich bewährt hat, die allerdings mit mir emeritiert wurde: Und zwar habe ich den Studierenden gesagt, sie sollen das, was ich in der Vorlesung vorgetragen habe, versuchen zu verstehen - nicht zu lernen. Und was sie besonders interessiert oder was sie nicht verstanden haben, das können sie mich in der Prüfung fragen. Somit war die Prüfung eine kleine Nachhilfestunde. Und mit etwas Erfahrung kann man nach so einer Prüfung ziemlich genau sagen, wie weit der Kandidat gekommen ist. Für die Beurteilung war der persönliche Eindruck aus der Kommunikation entscheidend.

DIE FURCHE: Sie haben mit einem Kollegen auch die Lehrerfortbildung in Österreich begründet. Welche Fähigkeiten zeichnen einen guten Lehrer aus?

Pietschmann: Um Erfolg zu haben, muss ein Lehrer oder eine Lehrerin die Schüler einfach gern haben. Es ist eine Frage der Liebe, nicht des Intellekts. Es gibt kaum etwas Schöneres, als jungen Menschen, die noch nicht fertig sind, dabei zu helfen, sich zu entwickeln. Für diese Arbeit muss man ja geradewegs dankbar sein.

DIE FURCHE: Zum Lernen und Lehren , schreiben Sie in einem Aufsatz, gehöre unabdingbar die Freude.

Pietschmann: Ich habe auch ein Buch mit dem Titel "Vom Spaß zur Freude" geschrieben. Wir leben heute in einer Spaßgesellschaft. Spaß aber ist nicht erfüllend. Worauf es wirklich ankommt im Leben, ist die Freude. Spaß vertreibt die Zeit, Freude macht froh. Freude am Lehren und Lernen ist Voraussetzung, dass etwas dabei herauskommt. Wenn ein Lehrer keine Freude an seinem Beruf hat, würde ich ihm empfehlen, den Job zu wechseln. Zur Freude gehört der Ernst. Wenn man die Freude nur allein betrachtet, wird daraus der Spaß. Und wenn man nur den Ernst betrachtet, wird daraus die Trostlosigkeit. Ich nenne das die "Schatten" dieser Zielbegriffe. Und diese "Schatten" sind zu vermeiden.

DIE FURCHE: Kann man diese Fähigkeit erlernen oder muss man sie im Lehrberuf quasi mitbringen?

Pietschmann: Ich spreche lieber von "üben". Zwischen lernen und üben besteht ein wesentlicher Unterschied, der kaum noch beachtet wird. Klavierspielen kann man nicht lernen, das muss man üben. Und so ist es auch beim Lehren. Beim Klavierspiel gibt es die ganz großen Pianisten und daneben diejenigen, die mit großer Freude dabei sind, aber öfters daneben greifen. Beides ist in Ordnung, solange man nur mit Eifer am Üben ist.

DIE FURCHE: Man sagt, Frauen interessierten sich weniger für Physik als Männer. Stimmt das wirklich?

Pietschmann: Es studieren mehr Männer als Frauen Physik. Man kann nun darüber spekulieren, woran das liegt. An der Erziehung? Oder am Charakter des Männlichen und Weiblichen? Die Welt ist Gegenstand der Physik; Physiker können also nicht weltfremd sein. Aber ihre Welt ist eine Welt ohne Menschen. Sehr gute Physiker sind oft kommunikationsgestört. Ich denke da etwa an den englischen Nobelpreisträger Paul Dirac, gewiss ein genialer Wissenschaftler. Auch Albert Einstein legte in einem Vertrag mit seiner ersten Frau genau fest, dass sie nicht in sein Arbeitszimmer kommen darf, wenn er arbeitet, und dass sie nichts auf seinem Schreibtisch verändern darf. Hier kann man gewiss von einer Kommunikationsstörung sprechen. Und die haben Männer öfter als Frauen.

DIE FURCHE: Vom Anglisten Dietrich Schwanitz stammt das Buch "Alles, was man wissen muss"(1999). Gibt es so etwas wie einen Kanon von Dingen, die man wissen sollte?

Pietschmann: Nein. Ich habe einmal die Idee angedacht, dass es bei der Matura keinen Fächerkanon geben sollte. Vielmehr sollten Austauschbarkeiten möglich sein. Beispiel: Einer verzichtet auf Latein und Griechisch und lernt stattdessen Chinesisch.

DIE FURCHE: Sie sind viel in der Welt herumgekommen. Wie unterscheidet sich unser Bildungssystem von dem anderer Länder?

Pietschmann: Nach dem Fall der Viererbande in China konnte ich mit einer der ersten ausländischen Gruppen dieses Land bereisen. Wir kamen auch in Schulen. Ein chinesischer Lehrer sagte, sie würden nie eine Frage stellen, die nur eine einzige richtige Antwort kennt, also ein Entweder-Oder, das für unsere Kultur so bestimmend ist. Das Abendland ist die einzige Kultur, die den Begriff Aporie nicht mehr kennt. Die glaubt, jeder Widerspruch sei ein Fehler. Ich fürchte, dass uns das noch einmal auf den Kopf fallen wird und wir in Zukunft einen großen Wettbewerbsnachteil haben werden gegenüber Indern, Chinesen und Japanern, die hier ganz andere Denkformen kennen.

DIE FURCHE: Sie sind seit 2004 emeritiert. Haben Sie bedauert, Abschied von der Uni zu nehmen?

Pietschmann: Das Schöne am Emeritieren ist ja, dass man nicht in Pension geschickt wird. Die Rechte bleiben, und so habe ich weiter zehn Jahre Vorlesungen gehalten -nun aber nicht mehr über Physik, sondern über Wissenschaftstheorie. Am Ende jeder Vorlesung habe ich die Studierenden gefragt: Hat Newton die Schwerkraft eigentlich entdeckt oder erfunden? Höchstens zwei, drei Studierende lagen mit "erfunden" richtig. Nach meiner letzten Vorlesung wussten plötzlich alle die richtige Antwort. Ich war ganz überrascht. Wie war dieser Entwicklungssprung möglich? Die Antwort: Die Studierenden hatten einfach im Internet nachgeschaut. Dieser ständige Zugang zum Wissen wird gewiss noch gewaltige Konsequenzen für das gesamte Bildungssystem haben.

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