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Die Macht der Quote und die Grenzen der Demokratie.

Nach jeder Wahl rühmen Politiker den Souverän ob seiner weisen Entscheidung. Das gehört sich natürlich so. Ob es den Tatsachen entspricht, ist eine andere Frage. Wahlkampagnen jedenfalls lassen keine große Wertschätzung des Souveräns erkennen. Wir wissen nicht, ob der Wähler mehrheitlich blöd ist. Politiker indes halten ihn offenbar dafür - worin sie sich mit denen einig wären, die deutsche Fernsehprogramme verantworten.

Was aber, wenn beide recht hätten? Wenn die Wahlbürger Parteien und Regierungen etwa so verantwortungsbewusst und überlegt her- und wieder wegzappen, wie sie sich Musikantenstadl, Big Brother oder Schalke 04 : Eintracht Frankfurt hineinziehen?

Indes schwärmt alle Welt vom mündigen Bürger, vom Souverän, dessen Entscheidung sich in heiliger Stille vollzieht. Schöne Idee. Doch selbst der vom Glauben an die Demokratie beseelte Idealbürger dürfte schon bisweilen die Augen erstaunt aufgerissen haben: Das sind sie also! Sie alle dürfen wählen und sich vermehren: die Rum-Cola-Trinker, die Trainingshosenträger, die Gröler, Glotzer, Analphabeten, die Tiefergelegten, die Pizza- und Pommes-Esser, Omis und Muttis, Spießer, Tierschützer und Sektenkader ... Und dann wählen sie auch noch notorisch das Falsche - siehe Österreich. Oder Italien.

Solche Gedanken beschämen den Wohlmeinenden, kaum sind sie unerbeten aufgetaucht. Bis - ja, bis das nächste Wahlplakat den Blick kreuzt und er erkennen muss, dass er nicht allein ist mit dieser wenig schönen Einschätzung des Souveräns. Während des Wahlkampfes - und der ist ja dauernd, also fast immer - treten Parteien und Politiker just so auf, als wendeten sie sich an Menschen, die glauben, was sie im Fernsehen sehen, die eine Aufmerksamkeitsspanne von 15 Sekunden haben und abends gerade noch Verona Feldbusch verkraften. Was Wunder - auch Politiker brauchen Quote, sprich Mehrheiten. Und dafür muss man mithalten können in der Spaßgesellschaft. Dem sensibleren Wahlbürger wird zugeflüstert, man mache das ja nur, bis man die Mehrheit habe. Aber dann! Dann gibt's Politik.

Nur niemandem wehtun ...

Dazu kommt es natürlich nicht. Die Bundesrepublikaner werden seit Jahrzehnten von Menschen regiert, die ihnen nicht viel zutrauen und deshalb auch nichts zumuten. Die harten Fakten der Demographie, die das derzeitige Rentenmodell in Frage stellen, liegen seit dreißig Jahren auf dem Tisch. Eine Gesundheitsreform, die diesen Namen verdient, ist überfällig, wie jeder weiß. Und die Staatsquote blieb auch unter Sparminister Eichel (dt. Finanzminister, SPD; Anm.) hoch; schließlich muss vom Steueraufkommen nicht selten erneute Realitätsverleugnung bezahlt werden - per Subvention untergehender Branchen und Berufe. Man will ja niemandem wehtun. Und jeder Reformeifer erlahmt, bringt jemand das böse Wort Politikverdrossenheit ins Spiel.

Was tut man gegen diesen Verdruss? Politische Entscheidungen treffen? Bequemer ist der Glaube, dass gegen Politikverdrossenheit nicht bessere Arbeit der Politiker, sondern Mehrarbeit der Wähler helfe, was man hierzulande "mehr Demokratie" nennt. Neue Wahlmöglichkeiten, andere Beteiligungsformen - so stellen sich Politiker und Meinungshabende die stärkere "Einbindung" des Wählers vor. Wofür das gut sein soll? Keine Ahnung. Denn der Souverän hat ja längst in mehreren Wahlen sein Mandat erteilt. Und: Mehr Bürgerbefragung mindert nicht den Druck, den die kurze Dauer der Legislaturperiode von nur vier Jahren jetzt schon ausübt. Ist "mehr Demokratie" womöglich nur das ungefährlichste und billigste Palliativ, das man dem missmutigen Wähler andienen kann?

Es gibt gewiss Fälle, in denen der Bürger sich wünscht, einmal kräftig dazwischenrufen zu können. Doch den meisten würde es im Normalfall durchaus reichen, sich gut vertreten fühlen zu dürfen: Politik und Politiker sollen ihnen getrost die Arbeit abnehmen, die öffentliche Geschäfte fordern. Der Mensch hat schon genug zu tun. Der Souverän darf beschränkt sein.

Gut, dafür braucht man keine Demokratie. Weitblickend kann auch der Fürst sein, der seinen Untertanen den Rahmen für ihr privates Glück und ihren Gewerbefleiß garantiert, dessen Früchte er tunlichst nur moderat abschöpft. (Andererseits: Ohne ein klein wenig Fürstenwillkür in Tateinheit mit unstatthafter Bereicherung gäbe es weniger Bibliotheken, Kunstwerke, Parks und Palazzi - die auch den modernen Menschen stärker zu berühren scheinen als die unter demokratischer Kontrolle erstellten Zweckbauten mit eingebauter Sollbruchstelle.)

Demokratie hat demgegenüber den Vorteil der Verflüssigung der Verhältnisse, sie gibt dem Volk ein Mittel gegen Willkür an die Hand. Doch unter dem Einfluss von Demagogen, so haben es Denker seit dem alten Rom immer wieder in grässlichen Farben ausgemalt, wird das Volk zum Mob oder, durch Brot und Spiele abhängig gemacht, zur Manövriermasse machtbewusster Tyrannen. Die Eliten bangten im Angesicht der plebs um ihre Macht, die Weitsichtigen fürchteten, dass, wenn alles dem Votum des womöglich nicht immer sehr verständigen Wählers unterworfen ist, die demokratische Verflüssigung jeder Planung für künftige Generationen enge Grenzen setzen müsse.

Moralische Erpressung

Zwischen der autoritären Anordnung und der Unregierbarkeit liegt deshalb die Überredungskunst - zumindestens in der Demokratie. Im Sozialismus reichten trockene Verlautbarungen aus ZK und Politbüro. In der Demokratie aber ersetzt auch manchmal die Emotion das Argument. Exemplarisch die Kampagne der damals frischgebackenen Bundesregierung für den deutschen Kriegseinsatz im Kosovo: Man war offenbar davon überzeugt, dass der Appell an die Vernunft des Wählers nicht genügen würde. Naja, vielleicht mangelte es ja auch nur an kommunizierbaren Argumenten ...

Einzig die moralische Erpressung scheint noch die nötige Legitimationsbasis herzustellen - für den Fall, dass Politik doch einmal etwas riskieren muss (wie die deutsche Einheit). Den vorauseilenden Konsens der Bürger zu fordern, statt seinem möglichen Unmut standzuhalten, geht indes entweder auf Kosten der Freiheit oder auf Kosten der Entscheidungsfreude, von der auf der Strecke bleibenden Wahrheit gar nicht zu reden.

Ein Ausweg aus dem Dilemma ist nicht zu erkennen. Dennoch ist es seltsam, wie schnell man hierzulande die Frage vergessen hat, die Denker aller Zeiten beschäftigte: Was befähigt einen Menschen eigentlich dazu, an der Entscheidung über das Gemeinwohl teilzunehmen? Wer kann von seinen Interessen absehen, Objektivität entwickeln, am ehesten über seinen Tellerrand hinwegsehen, an die Zukunft denken? Wer ist unabhängig genug, dem wohltönenden Organ und der geschliffenen Rhetorik eines Demagogen zu widerstehen? Wirklich nur die jeweils herrschenden Eliten, wie man bis ins 19. Jahrhundert glaubte? - Wirklich jeder Mann und jede Frau, wovon man heute überzeugt ist?

Die Weimarer Republik und das Dritte Reich brachten den demagogischen Appell an die Volksmassen in Misskredit. In der Nachkriegsbundesrepublik wollte man das Dilemma der Demokratie mit dem Prinzip der Repräsentation lösen: Jeder Mann und jede Frau durfte, ja sollte wählen - freie und unabhängige Volksvertreter. Diese indes, so sah und sieht es die Theorie vor, sind gehalten, nicht einfach nur den Wählerwillen abzubilden, sondern ihn im parlamentarischen Austausch zu verfeinern, zu veredeln, ihn um die Komponente des allgemeinen Interesses zu ergänzen. Die Theorie ist wunderbar und würde viele Probleme lösen. Die Wirklichkeit sieht anders aus: Immer wieder lassen sich die unabhängigen Volksvertreter von Lobbyisten beschwatzen und erpressen und von der eigenen Partei in Fraktionszwang nehmen.

Vom Prinzip der Repräsentation ist nicht mehr häufig die Rede. Statt dessen geistert der Mythos von der Basisdemokratie umher. Gerade in Angelegenheiten, die nicht im unmittelbaren Interesse des Einzelnen liegen, soll er nun Verantwortung tragen: Entscheidungen mit weit in die Zukunft reichenden Folgen sollen nicht den Repräsentanten überlassen sein, sondern der höheren Instanz, dem Souverän. Plötzlich ist der kleine Mann das einzig verlässliche Orakel in zukunftsweisenden Fragen.

Das Dilemma bleibt, weshalb ersatzweise über die Verbesserung des Bürgers zwecks Verbesserung der Politik nachgedacht wird - ein unerschöpfliches Thema für die Talkshows und für Promis, die fürs Gute und sich selber werben. Was sich "Wertedebatte" nennt, kehrt alle Jahre wieder und ist eine schöne Gelegenheit für meinungshabende Menschen, alle anderen zu Zivilcourage in der Mitmachgesellschaft aufzurufen. Dort ist der Bürger zum multiplen Einsatzkommando mutiert: Er soll umfassend informiert sein, wachsam durch die Straßen San Franciscos streifen, niemals wegsehen, zur Not den Hilfssheriff geben und nach getaner Arbeit Kinder für die Zukunft Deutschlands machen.

Das haben uns die Grünen eingebrockt, seit sie weiland als Partei ohnegleichen antraten. Zunächst schalteten die etablierten Parteien bei "Basisdemokratie" noch auf Abwehr. Jetzt ist mehr Partizipation, in welcher Form auch immer, das parteiübergreifende Zaubermittel. In Wirklichkeit war Basisdemokratie schon in ihren unschuldig scheinenden Anfängen nichts als ein riesengroßer Schwindel: Je informeller Verfahren sind, desto leichter sind sie auszunutzen von Leuten, die wissen, was sie wollen. Wer dabei verliert, ist die zuvor hofierte Basis, die sich als bloßer Bodensatz erweist. Deren Angehörige bringt das in Wirklichkeit selbst noch um die Stimme, die sie in einem geregelten Verfahren immerhin einbringen können. Zurück bleibt das rohe Interesse einer Funktionärselite, die aus ihrer Verachtung der Masse kein Hehl macht.

Das kann man auch einfacher haben. Und vielleicht sind sie sogar ehrlicher, diejenigen, die gar nicht erst den mündigen Bürger verlangen oder gar um seine Umerziehung bemüht sind. Die niemanden überfordern wollen und sich deshalb gleich tief hinunter auf das Niveau bewegen, wo sie die Wählermehrheit vermuten. Das nennt man "den Wähler dort abholen, wo er steht". Meistens sitzt er ja - vor dem TV-Gerät.

Wahlen alle sechs Jahre!

Es hilft nichts: Weder Volksnähe noch "mehr Demokratie" machen Politik automatisch besser. Politiker einfach besser zu bezahlen, damit ihr Job auch diejenigen intelligenten Zeitgenossen anzieht, die nicht einzusehen vermögen, warum ein Volksvertreter und Staatenlenker weniger verdient als ein Konzernchef, wird an dem scheitern, woran alle Politik zu scheitern scheint - am Souverän, der sich in just dieser Frage so kleinkariert zeigt, wie ihn die Wahlkampfstrategen einschätzen.

Das, was vielleicht gegen den Zwang hülfe, Politik auf Überredungskunst in Zeiten des Wahlkampfs zu reduzieren, wäre nicht die Verstärkung, sondern die Verminderung des Einflusses des Wählers. Er wählt schon genug - jeden Tag zwischen zig Programmen. Er käme also nicht aus der Übung, wenn man ihn, sagen wir, nur alle sechs Jahre befragte. Dann fehlte nur noch der Mut, den Politiker brauchen, um sich in den kalten Wind der Realität jenseits der Konsensgesellschaft zu stellen.

Cora Stephan, geb. 1951, lebt als Buchautorin, Essayistin und Kolumnistin in Frankfurt/Main.

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