Für ein Sein im Optimum

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Cheftrainer Peter Sloterdijk fordert den Durchschnittsmenschen auf, sich durch spirituelle und körperliche Höchstleistungen emporzuschwingen. Das Motto lautet: Üben, üben, üben!

Du musst dein Leben ändern!“ Dieser Imperativ ist speziell zum Jahreswechsel oft zu hören, wenn es darum geht, schlechte individuelle Gewohnheiten zu korrigieren. Aber auch im globalen Kontext hat diese Aufforderung höchste Priorität. Die gegenwärtige ökonomische und ökologische Krise hat eine Dimension erreicht, die Peter Sloterdijk als apokalyptische Endspielsituation beschreibt, die nur eine Schlussfolgerung zulässt: „Die einzige Tatsache von universaler ethischer Bedeutung in der aktuellen Welt ist die diffus allgegenwärtig wachsende Einsicht, dass es so nicht weitergehen kann.“

Um eine grundlegende Änderung der gegenwärtigen Endspielsituation zu bewirken, evoziert Sloterdijk eine anthropologische Grundkonstante, die das eigentliche Leben des Menschen betrifft. Es handelt sich dabei um die Übung, deren Kulturgeschichte Sloterdijk in seinem fulminanten, wortgewaltigen, mit Neologismen nicht sparenden Buch „Du mußt dein Leben ändern“ nachzeichnet. Die Übung ist für ihn jene Operation, „durch welche die Qualifikation des Handelnden zur nächsten Ausführung der gleichen Operation erhalten oder verbessert wird“. Durch mentale und physische Übungen entwickelt der Übende die Fähigkeit, dem anfänglich unstrukturierten In-der-Welt-Sein eine bestimmte Form zu geben, nietzscheanisch gesprochen, „die Kraft zu entwickeln, Herr zu werden über das Chaos, das man ist“. Nach einer Phase der Experimente sollte sich ein „großer Stil“ herausbilden, der dem Leben eine singuläre Gestalt verleiht. Der übende Mensch, sämtlicher religiöser oder metaphysischer Gewissheiten beraubt, nimmt sein Leben selbst in die Hand; er löst sich aus dem passiven Zustand des Geformtseins durch gesellschaftliche oder religiöse Institutionen und schafft sich eine Übungszone mit dem Ziel, „aus dem eigenen Dasein einen Gegenstand der Bewunderung zu formen“. Das übende Subjekt entfernt sich aus dem Dunkel der Höhle, in der es sich nach Platon befindet; es verlässt die Zone des „Man“, die Martin Heidegger als „erdrückende Macht des Alltäglichen“ beschrieben hat, die alles Exzeptionelle nivelliert: „Alles Ursprüngliche ist über Nacht als längst bekannt geglättet“, heißt es in „Sein und Zeit“, „alles Erkämpfte wird handlich. Jedes Geheimnis verliert seine Kraft.“

„Der Berg des Unwahrscheinlichen“

Der Übende, der aus der vertrauten Welt ausbricht, wird vom Impetus angetrieben, etwas Außerordentliches zu leisten. Sloterdijk bezeichnet diese Intention als den Versuch, „den Berg des Unwahrscheinlichen“ zu besteigen. Für den Durchschnittsmenschen scheint der Gipfel unerreichbar zu sein; er verharrt lieber „im Basislager“, wo ihn keine Risiken erwarten. Der in das Alltagsleben verstrickte Mensch („der Barbar, der Leistungsverächter“, der Anarchist, der Hierarchien ablehnt, ebenso wie der exzessive Medienkonsument oder der Drogenadept, der in den künstlichen Paradiesen seinen Rausch erlebt, allerdings ohne sich dafür anzustrengen) ist der Gegenspieler zum übenden Menschen, der sich zum nietzscheanischen Übermenschen aufschwingen soll. Die Wege dorthin sind vielfältig, wie der Trainer Sloterdijk in einer rasanten Tour d’Horizon durch die Kulturgeschichte aufzeigt: Als „höhere Menschen“ fungieren Einsiedler, Mönche, Apostel, Yogis, Athleten, Bergsteiger oder Astronauten, die alle vom Wunsch beseelt sind, sich durch ein spirituelles oder körperliches Extremtraining hinaufzupflanzen, anstatt sich nur fortzupflanzen. Ihre Existenz ist die Umsetzung einer „Vertikalspannung“, die sich dem Herdenbewusstsein des Basislagers entgegensetzt. Das besondere Merkmal dieser Spannung ist das Gefühl: Ich lebe zwar, aber noch nicht richtig. Das führt dazu, das Noch-Nicht eines defizienten Lebens durch Höchstleistungen zu einem gelungenen Leben umzuformen.

Der erste Schritt ins übende Leben beginnt mit einer „radikalen Sezession“ – der bewussten Loslösung vom gewohnten Leben des Heidegger’schen „Man“. So verschenkt Franz von Assisi das elterliche Vermögen, Buddha empfiehlt, sich aus dem ständig laufenden Rad der Begierden auszuklinken und Jesus rät, Eltern und Verwandte zu verlassen. Das bisherige Leben erscheint den Übenden, die sich auf den Weg machen, das Unwahrscheinliche zu erreichen, als etwas zutiefst Verächtliches; sie beschließen: „Wir treten aus der gewöhnlichen Wirklichkeit aus.“ Erst mit dem Austritt aus dem sozialen Leben beginnt der Prozess, den Michel Foucault als „Sorge um sich“ bezeichnete; jener Rückzug aus dem Strom des Lebens auf ein Ufer, für den Sloterdijk den Ausdruck „Ufer-Subjektivität“ verwendet. Von diesem Stützpunkt aus erfolgen die verschiedenen asketischen Praktiken, die den Übenden zum „Sein im Optimum“ führen sollen.

Eine die abendländische Kulturgeschichte prägende Praxis war die christliche Askese, wie sie der Eremit oder der Mönch in einem Kloster ausübte. Ein exemplarisches Dokument, das den Aufstieg des Mönchs zum Bewusstsein der Gottähnlichkeit nachzeichnet, ist die Schrift „Treppe zum Paradies“ des Mönchs und Einsiedlers Johannes Climacus, der im sechsten Jahrhundert lebte. Darin beschreibt er den Weg zu Gott auf dreißig Stufen, der mit dem Bruch mit der Welt des Profanen beginnt. Darauf folgt ein harter Kampf mit den dämonischen Leidenschaften und Begierden, die Gustave Flaubert in dem Buch „Die Versuchung des heiligen Antonius“ anschaulich schilderte. Gelingt die Domestizierung der Leidenschaften, werden Energien freigesetzt, die Erlebniszustände von äußerster Intensität auslösen, die einen im Tiefsten erschüttern. Damit kündigt sich das höchste Stadium des spirituellen Lebens an – die gottähnliche Seelenruhe, die Sloterdijk als „theomimetische Apathie“ bezeichnet.

Kaum Hoffnung für Nietzsches Projekt

Für die Gegenwart haben diese kulturstiftenden spirituellen Übungen wenig Bedeutung, es ist eine weitgehende Säkularisierung erfolgt. Der Sport tritt an die Stelle des christlichen Asketismus, er entspiritualisiert die Askese. Trotz der grundlegenden Divergenzen zwischen spirituellen Übungen des christlichen Asketen und dem Training des Spitzensportlers gibt es eine Gemeinsamkeit, nämlich den Willen zur Grenzüberschreitung der normalen körperlichen und intellektuellen Disposition. Der Skiflieger, der von der Schanze abhebt und kurz den Flugtraum des Ikarus verwirklicht, erlebt eine ähnliche Ekstase wie Meister Eckhart, der von dem unbeschreiblichen, ozeanischen Gefühl gesprochen hat, das entsteht, wenn sich „die individuelle Seele mit Gott vermählt“.

In der Gegenwart besteht jedoch für Sloterdijk kaum Hoffnung für das nietzscheanische Projekt des Hinaufpflanzens. Das utopische Ziel einer Annäherung an das Unwahrscheinliche, an das Unvorstellbare ist durch das komfortable, bequeme Leben im Basislager der postindustriellen Gesellschaften verloren gegangen. Sloterdijk konstatiert eine allgemeine „invasive Vulgarität“, die speziell durch die elektronischen Medien in alle Bereiche des Lebens eingedrungen ist. Der Unterhaltung wird dabei der Vorrang gegeben; man findet sich damit ab, „dass kommt, was kommen muss“. Angesichts dieser fatalistischen Haltung des heutigen Herdenmenschen verblasst auch die von Sloterdijk so emphatisch beschriebene Tätigkeit des Übens. In einer Epoche, in der mit Rilke nur mehr vom „Überstehen ist alles“ gesprochen werden kann, in der jeder Aufschub der globalen Klima- und Finanzkatastrophen als Triumph gefeiert wird, haben die Übungen nur mehr die Aufgabe, meint Sloterdijk zum Schluss des Buches lakonisch, „zu einem gemeinsamen Überleben beizutragen“.

Du mußt dein Leben ändern

Über Anthropotechnik

Von Peter Sloterdijk, Suhrkamp 2009,

723 S., geb., e 25,50

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