Für eine Ethik der Befreiung

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Der evangelische Theologe Kurt Lüthi lässt in seinem Buch "Christliche Sexualethik" fast nichts aus.

Der erste Eindruck: Was für ein dicker Wälzer! Da soll man durch? Ja, man soll. Und man kann auch. Denn erstens schreibt Kurt Lüthi, emeritierter Professor der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien nach eigenem Bekunden kein "Gelehrtenpalaver" und pflegt sich klar auszudrücken. Zweitens hat er seine "Christliche Sexualethik. Traditionen, Optionen, Alternativen" in leserfreundliche Kleinkapitel geteilt. Und drittens hält es Lüthi mit Albert Camus, den er zitiert: "Ich möchte wissen, ob wir Gott am Ende unserer Leidenschaften finden können. Ich weigere mich nicht, einem höheren Wesen zu begegnen, aber ich lehne einen Weg ab, der vom Menschen wegführt."

Lüthi nimmt sich Zeit für diesen Weg. Er beginnt mit dem Menschen, mit humanwissenschaftlichen Aspekten der Sexualität, und endet mit dem Menschen, wenn er die Grundpfeiler seiner Sexualethik entfaltet: Humane Kultivierung des Sexualverhaltens und soziale Regulierung. Nichts Geringeres als eine Ethik der Befreiung will er anbieten - Befreiung, die in der Begegnung mit dem liebevollen Gott des Alten und des Neuen Testaments wurzelt und andererseits die trinitarische Gottesvorstellung zu Grunde legt.

Bis zur genauen Entfaltung dieser Befreiungsethik müssen jedoch die dunklen Seiten christlichen Umgangs mit Körperlichkeit aufgerollt werden. Lüthi nennt christliche Sexualfeindlichkeit und ihre Wirkungsgeschichte beim Namen. Er beschönigt nichts, doch ist seine Darstellung nüchtern und unaufgeregt, wobei besonders die Einarbeitung feministischer Entwürfe angenehm auffällt. Bei seinen Streifzügen durch Bibel und Geschichte arbeitet er aber auch den positiven Strang christlicher Tradition heraus: den Glauben an Gottes gute Schöpfung und an die Inkarnation, aber auch das Gedankengut der Mystikerinnen und der Romantik. Hier ist es insbesondere der protestantische Theologe Friedrich Schleiermacher, der Lüthi inspiriert hat: Ethik soll nicht fordern, sondern verstehen.

Diesem Postulat kommt Lüthi voll und ganz nach. Nirgendwo im ganzen Buch taucht ein moralischer Zeigefinger auf. Lüthi will nicht moralisieren, sondern therapieren - häufig unter Berufung auf Sigmund Freud, was nicht jedermanns Sache ist. Zwischen den Zeilen findet sich aber die ganze Lebenserfahrung und Weltoffenheit eines Theologen, dem Allzumenschliches nie fremd ist. Vom Cybersex über Sado-Maso-Praktiken bis hin zu Tantrismus - der 79-jährige Autor lässt in seinen Betrachtungen nichts aus.

Durch diese Fülle ergibt sich aber auch der Eindruck eines erotischen Setzkastens, in dem ein Sammelsurium von Einzelteilen nebeneinandersteht. Häufig würde man sich neben dem vielen Einerseits-Andererseits eine klarere Stellungnahme des Verfassers wünschen, beispielsweise im Kapitel über sadomasochistische Praktiken. Doch Lüthi tut dem Leser den Gefallen nicht. Nachdenklich betrachtet er seine Ausstellungsstücke und kommt zu dem Schluss: Es gibt keine Normen und keine Lehrsätze, die für alle Zeiten unabänderlich eine "perverse" von der "normalen" Sexualität trennen würden. Lüthi lehnt jede autoritäre Moral ab: "Es gibt weder zeitlose Normen noch zeitlose Ideale der Liebe. Es gibt nun auch keine Verfehlungen mehr, die man als Unmoral oder Sünde bezeichnen könnte."

Die einzige Unmoral, die es laut Lüthi gibt, ist "Mangel an Liebe oder die Verletzung und Instrumentalisierung des Partners im Liebesverhältnis". Die Aufgabe jedes Menschen - ob schwul, lesbisch oder heterosexuell - ist, Geduld, Treue und Hingabe zu leben und den Partner niemals zum Objekt zu degradieren. Das zielt auf die schrittweise Entwicklung einer erotischen Kultur, die die Begegnung zwischen einem Ich und einem Du ermöglicht. Weil solche Begegnung den Raum des rein Privaten weit übersteigt und von gesellschaftlichen/ökonomischen Rahmenbedingungen geprägt ist, sieht Lüthi in der Solidarität mit den Armen einen weiteren Grundpfeiler christlicher Sexualethik.

Lüthi setzt in seinen Betrachtungen über Sexualität ganz auf die Begegnung zwischen Menschen. Den Aspekt Fortpflanzung klammert er völlig aus und beschränkt sich darauf, angesichts der Bevölkerungsexplosion auf die Notwendigkeit einer gezielten Familienplanung hinzuweisen. Das ist zu einfach, doch angesichts der traditionellen Fixierung insbesondere katholischer Sexualmoral auf Fortpflanzung mag die Einseitigkeit bewusst gewollt sein, um ein Gegengewicht zu schaffen. Vielleicht ist es ja auch gerade diese Einseitigkeit, die dem Buch jenen Hauch unverkrampfter Freude an der Lust verleiht, den man bei anderen theologischen Abhandlungen über Sexualität so ganz und gar vermisst.

Christliche Sexualethik Traditionen, Optionen, Alternativen

Von Kurt Lüthi, Böhlau Verlag, Wien 2001, 408 Seiten, geb. e 39,80

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