"Für mich gibt es keine Provinz"

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Der israelische Autor Joshua Sobol inszeniert sein weltweit gespieltes Stück "Ghetto" am Stadttheater Klagenfurt. Im Furche-Gespräch vor der dieswöchigen Premiere erzählt er, warum er sein Stück gerade hier aufführen will, was er dabei ins Zentrum stellt und warum er seit Jahrzehnten mit der österreichischen Kultur verbunden ist.

Die Furche: Herr Sobol, Sie haben seit den 1980er Jahren eine enge Beziehung zum deutschsprachigen Raum - für einen israelischen Autor doch recht ungewöhnlich.

Joshua Sobol: Damals hat man das in Israel auch kritisch gesehen; es war nicht selbstverständlich, mit deutschen Theatern zusammenzuarbeiten. Meine Haltung war von Anfang an anders. Und ich sage das heute mit noch stärkerer Betonung: Dieser Dialog zwischen Israelis und Deutschen ist sehr existenziell und hat eine große Bedeutung für uns wie auch für unsere deutschen Partner.

Die Furche: Sie haben von Otto Weininger und Alma Mahler über Franz Jägerstätter bis hin zu Falco Figuren aus Österreich auf die Bühne gestellt. Was interessiert Sie daran?

Sobol: Ich habe in den 1970er Jahren das Stück "Night of 20th" geschrieben; es erzählt die Geschichte von zionistischen Pionieren, die 1920 nach Palästina emigrierten. Als ich die Geschichte dieser Gruppe recherchierte, entdeckte ich, dass Weiningers Name in ihren Diskussionen sehr oft fiel. So versuchte ich, "Geschlecht und Charakter" zu finden - es war damals auf Hebräisch nicht zu bekommen; also hatte ich keine Wahl und musste Deutsch studieren, um Weininger im Original zu lesen. "Geschlecht und Charakter" hat mich so beeindruckt, dass ich "Weiningers Nacht" geschrieben habe. Im Zuge der Recherchen habe ich auch die große Wirkung entdeckt, die die Wiener Jahrhundertwende auf die Moderne hatte - auch auf die Entstehung des Zionismus. So konnte ich mich von der Wiener und der österreichischen Geschichte gar nicht mehr trennen.

Die Furche: Sie haben bisher in großen Städten, auf großen Bühnen gearbeitet. Was hat Sie jetzt in die Provinz, nach Klagenfurt gelockt?

Sobol: Für mich gibt es keine Provinz, es geht nur um die Frage: Gute, bedeutungsvolle Kunst oder harmloses Entertainment. Als Josef Köpplinger, der neue Klagenfurter Intendant, mir gesagt hat, er wolle hier "Ghetto" aufführen, dachte ich, das ist eine interessante Gelegenheit, denn ich weiß ein wenig, was hier in Kärnten vorgeht.

Die Furche: Jörg Haider hat Sie ja 1995 geklagt.

Sobol: Nicht mich, aber Paulus Manker und das Theater. Vor langer Zeit habe ich geglaubt, Theater soll immer eine Provokation der Gesellschaft sein. Es hat diese Rolle gegenüber einer Gesellschaft, die vieles verdrängt. Ich weiß, dass hier in Klagenfurt vor dem Zweiten Weltkrieg eine kleine jüdische Gemeinde lebte - es gab etwa 330 oder 340 Juden hier. Man transportierte sie in die Lager ab und nur wenige haben überlebt. Ich glaube, man strengt sich in Klagenfurt nicht zu sehr an, diese Geschichte bewusst zu machen. "Ghetto" könnte dazu führen, dass man sich zu fragen beginnt: Was haben wir in Klagenfurt während des Zweiten Weltkriegs gemacht mit unseren Juden? Was ist hier passiert?

Die Furche: "Ghetto" spielt in Vilnius, der heutigen litauischen Hauptstadt, und bezieht sich stark auf das Tagebuch des Ghetto-Bibliothekars Hermann Kruk.

Sobol: Dieses Tagebuch hat meine ganzen Vorstellungen vom Holocaust in den Ghettos revolutioniert. Und dann habe ich entdeckt, dass der künstlerische Leiter des Ghetto-Theaters noch in Tel Aviv lebte. Ich konnte viele Gespräche mit ihm führen und durch ihn auch mit anderen Überlebenden. Es dauerte etwa zwei Jahre, bis ich diese große Materialsammlung beisammen hatte. Ein so großes Thema mit so vielen Ereignissen - dafür eine theatralische Form zu finden, war nicht selbstverständlich. Aber irgendwie hat dieses reiche Material für seine eigene Form gesorgt.

Die Furche: Eine Form, die Sie als Polydrama bezeichnen.

Sobol: Ja, das ist, wie ich später verstanden habe, ein Polydrama, das heißt ein Drama - wie bei der Polyphonie in der Musik - mit vielen Stimmen. Es gibt keine Hauptfigur, sondern mehrere Figuren, und ihre Botschaften, ihre Stimmen schaffen zusammen diese Komposition. Das ist eine theatralische Form, die mich fasziniert.

Die Furche: Gibt es in diesem Polydrama "Ghetto" eine Stimme, mit der Sie sich am stärksten identifizieren? Sind Sie eher auf der Seite Kruks und seiner Maxime "Auf dem Friedhof darf man kein Theater spielen" oder eher auf der von Jakob Gens, der pragmatisch möglichst vielen eine Überlebenschance geben wollte?

Sobol: Ich muss sagen, ich identifiziere mich genauso mit Kruk wie mit Gens. Es gab verschiedene Arten des Überlebenskampfes. "Ghetto" hat viel zu tun mit dem geistigen Widerstand. Und ich glaube, wenn man Opfer eines Regimes wie des Nazi-Regimes ist, dann ist geistiger Widerstand sehr wichtig. Deshalb identifiziere ich mich sehr mit den Theaterleuten wie auch mit Kruk, der durch seine Bibliothek eine andere Form geistigen Widerstandes praktizierte. Und mit Gens, der seine eigene Taktik entwickelte: Er glaubte, wenn das Ghetto produktiv würde, gäbe es die Chance, dass mehr Menschen überleben. Am Ende hat keine dieser Taktiken wirklich funktioniert, denn das Nazi-Projekt zielte auf die totale und absolute Vernichtung.

Die Furche: War es 1984 nicht riskant, die innerjüdische Polemik und einen skrupellosen Geschäftemacher im Ghetto zu zeigen? Wenn man Juden nicht nur als Opfer darstellte, war ja schnell der Vorwurf zur Hand, man leiste dem Antisemitismus Vorschub.

Sobol: Man hat mir auch diesen Vorwurf gemacht. Henryk M. Broder schrieb zur Aufführung von "Ghetto" in Berlin, das sei das richtige Stück für das falsche Publikum. Ich hatte mit ihm eine Polemik, denn ich glaube nicht, dass es ein falsches Publikum gibt im Theater. Ich dachte, "Ghetto" könnte das Verstehen dessen verbreiten, was innerhalb der jüdischen Gesellschaft durch diesen Überlebenskampf passiert ist. Man konnte nicht überleben, ohne bis zu einem gewissen Grad mit den Nazis mitzumachen, um sie zu überlisten. Ich glaube, Gens hat diese Taktik versucht.

Die Furche: Jetzt haben Sie etwa 25 Jahre Erfahrung mit dem Stück "Ghetto" - was wollen Sie in Klagenfurt besonders herausarbeiten?

Sobol: Es geht um eine Geschichte, wo am Anfang jeder für sich allein lebt und stirbt. Und heute sehe ich, dass die menschliche Gesellschaft durch eine sehr schwere Zeit geht, wo eine wilde Privatisierung Situationen schafft, in der Organisationen, die dem Arbeiter seine menschliche Existenz und seine Rechte garantiert haben, kaputt gehen. Und ich habe zu den Schauspielern gesagt: Denkt an eure alltägliche Erfahrung mit dieser Unsicherheit, mit der bedrohten Existenz, wenn ihr die Rollen und Situationen im Ghetto spielt - dort ist es genau so: Es kommt Macht, die sagt: Euer bisheriges normales Leben existiert nicht mehr. Jetzt herrschen neue Gesetze, und sie ändern sich von einer Minute zur anderen. Keine Solidarität zwischen den Menschen, jeder für sich allein. Und doch kommt diese Gesellschaft an einen Punkt, wo sie diese Solidarität schafft. Das wollte ich in dieser Aufführung akzentuieren.

Das Gespräch führte Cornelius Hell.

Das Überleben im Ghetto auf die Bühne gestellt

Mit dem Stück "Ghetto" ist der israelische Autor und Theatermann Joshua Sobol weltberühmt geworden. Es wurde in mehr als 20 Sprachen übersetzt und im Vorjahr in einer litauisch-deutschen Koproduktion verfilmt - am "Originalschauplatz" in Vilnius, dessen Ghetto es auf die Bühne stellt. Die europäische Erstaufführung unter der Regie von Peter Zadek 1984 an der Freien Volksbühne Berlin verhalf der Sängerin Esther Ofarim zu einem Comeback und macht den Schauspieler Ulrich Tukur berühmt. 1988 war es am Wiener Volkstheater mit Paulus Manker und Hilde Sochor zu sehen. Das Stück zeigt den pragmatischen Ghetto-Kommandanten Jakob Gens, der zum Deal mit den Nazis bereit ist und Juden dem sicheren Tod ausliefert, wenn er wenigstens ihre Zahl herunterhandeln kann; auch durch das Ghetto-Theater will er Schauspielern das Überleben sichern. Sein Gegenspieler, der linke Bibliothekar Hermann Kruk, vertritt den Grundsatz: "Auf dem Friedhof kann man nicht Theater spielen." Von Joshua Sobol stammen auch die Stücke "Weiningers Nacht", "Alma - A Show Biz ans Ende" (UA bei den Wiener Festwochen 1996, Regie Paulus Manker) und "iWitness" (Augenzeuge") - dieses Stück über Franz Jägerstätter wurde 2002 in Mankers Regie in Tel Aviv uraufgeführt. Im März wird das Wiener Theater Drachengasse wieder ein Stück von Joshua Sobol uraufführen: "Wanderer". Es geht darin um einen israelischen Doppelagenten.

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