Furien des 21. Jahrhunderts

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Nach vier intensiven Wochen endete am vergangenen Sonntag das 26. „ImPulsTanz“-Festival in Wien. 90.000 Besucher verfolgten 95 Vorstellungen von 39 internationalen Kompanien. Am Programm standen Highlights wie de Keersmaekers Opus „The Song“ und Marins Choreografie „May B“.

Der Tanz ist vorbei: Vier intensive Wochen, in denen man im Theatersessel hitzebedingt oft klebte; und die Bewegungsserpentinen bewunderte, auf denen Schmerz und Lust in Endlosschleifen vorüberglitten. Bitteres rieb sich an Bukolischem, Hartes brach an Zartem, bis alles, leidenschaftlich durcheinandergewirbelt, unvermeidlich in der tragischen comédie humaine zusammenfand. Verbindliche Lesarten gibt es nicht. Am Ende aller Verzweiflung triumphiert das Wunder über die Wunden.

Hier einige verbale Schlaglichter ohne Anspruch auf Vollständigkeit:

A wie Auslastung: Das Festival kann sich über eine Auslastung von 96 Prozent freuen. 90.000 Besucher verfolgten 95 Vorstellungen von 39 internationalen Kompanien – mehr als ein Achtungserfolg.

Weiß-schwarze Fratzen

B wie Beckett, Samuel: „May-B“, abgeleitet von Becketts Lieblingswort „vielleicht“, lautet der Titel einer vor 18 Jahren kreierten Choreografie der Französin Maguy Marin, der „ImPulsTanz“ ein Personale widmete. Selbstvergessen, wie Insassen eines Sanatoriums für manische Clowns, wandern Marins Figuren mit ihren weiß-schwarz verschminkten Fratzen durch den Raum – abwartend, wartend. „Warten auf Godot“ … Ein Warten, wie es untänzerischer kaum sein könnte, das den Betrachter mit unwiderstehlichem Sog ins Nichts zieht. „Diese ganz unbewegliche Bewegungslosigkeit hinterlässt eine Leere, einen Strand des Schweigens“, so Maguy Marin selbst. – Immer noch berührend, wenn auch die revolutionäre Energie heute ein wenig abgemildert erscheint.

H wie Highlight: „The Song“, neuestes Opus von Anne Teresa de Keersmaeker, mit dem die Veteranin aus Flandern an die Grenzen ihres eigenen Modells geht. Keine wirbelnden, hinreißenden Mädchen, vielmehr ein stilles Stück, getragen nur von Tänzern: zehn grimmige, junge Männer, deren Körper oft knicken, die den Zusammenhalt ihrer Bewegungen ständig neu erkämpfen müssen. Über ihnen ein metallisch glänzender Schleier, Lichtfänger und Klangverstärker zugleich. Kurze Echos frecher, aufmüpfiger Beatles-Songs, wie ferne Erinnerungen. Gegen Ende sinkt der Aluminiumhimmel knisternd zu Boden, ein Bühnenscheinwerfer vollführt darauf einen Glitzertanz des Lichts. Atemlose Stille – Halbdunkel – Black Out.

K wie Körper: im Wandel begriffen, immer weiter entfernt vom wohlgeformten, athletischen Ideal; immer öfter klein, untersetzt und gerne nackt.

K wie kritisch: Wie sieht politische Choreografie aus? – Bei der Formulierung ihrer Gesellschaftskritik liegen die zeitgenössischen Bewegungskünstler weit auseinander. Da gibt es Hardliner wie Anne Liv Young oder Jan Fabre, die den Zuseher unbarmherzig-direkt anspringen, aber mitunter in alten Hüten steckenbleiben. Da gibt es Xavier Le Roy („Self Unfinished“), der mit subtileren Mitteln an konservativen Fassaden rüttelt. Und es gibt Chris Haring, der ins Vergnügungsetablissement lockt und spielerisch an die Grenzen von „typisch weiblich“ und „typisch männlich“ führt.

P wie Publikum: eine kunterbunte Mischung. Da fand man den Punk mit überdimensionierten Plastikschlapfen neben der vor Aufregung rotwangigen, zarten Elevin. Da amüsiert sich der Hugo-Boss-Träger königlich in Jan Fabres Absolutionsfarce „Orgy of Tolerance“ (während bei mir die Enttäuschung über das Erstarren im Agitprop dominiert). Da revoltiert ein zusehends ärgerlich werdendes Publikum bei Maguy Marins „Description d’un combat“, einer irritierenden, textlastigen Arbeit, und fordert den Tanz ein, den die Choreografie verweigert.

Neustart ins „NeuSchwarz“

S wie Schwarz: Mit Furien des 21. Jahrhunderts, getauscht gegen die Tänzer des 20., zelebriert der belgische Berserker Wim Vandekeybus einen Neustart ins „NeuSchwarz“. „NiewZwart“, mit der wiedererstandenen Truppe Ultima Vez, liefert motorische Schockeffekte im Sekundentakt. Sieben Tänzer springen, stürzen, zucken in endlosen Qualen, mal Subjekt ihres Willens, mal Objekt ihrer Triebe. Man fragt sich, in welcher von Dantes Höllen man gelandet ist.

X wie Xing, Jin – deutsch: „strahlender Stern“; schillernde Kunstfigur aus Shanghai, Performerin, Chansonette, charismatische Tänzerin; vormals Soldat der chinesischen Armee und Mann. Am letzten Abend des Festivals schlendert Jin Xing in dem zur Lounge umfunktionierten Kasino am Schwarzenbergplatz durch die Sitzreihen, streichelt versonnen ihr Weinglas, erzählt von Liebe und Hass, Gier und Angst, und umtänzelt leichtfüßig das Universale, das jeder menschlichen Seele und jeder menschlichen Erfahrung gemeinsam ist.

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