Garten der Sicherheit

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Tschechows ironische Zwischentöne: "Der Kirschgarten" in Reichenau kommt ganz ohne Melodramatik aus.

Badenweiler, 15. Juli 1904: Der Arzt und mäßig erfolgreiche Autor Anton Pawlowitsch Tschechow trinkt sein letztes Glas Champagner, erklärt: "Ich sterbe" und beendet sein kurzes Leben ebenso unsentimental wie seine Bühnenfiguren.

An dessen 100. Todestag legt auch in Reichenau Ludwig Hirsch den 87-jährigen Diener Firs an die Bühnenrampe zum Sterben und beendet damit eine liebevolle Bühnen-Hommage an einen der schärfsten Kritiker der russischen Gesellschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts.

In die atmosphärische Leichtigkeit der Sommerfrischen-Auszeit fügt sich Tschechows "Kirschgarten" in Reichenau, als spielte es vor Ort.

Nest der Erinnerungen

Ranjevskaja (Kitty Speiser) ist mit ihrer Tochter (Stefanie Dvorak) aus Paris auf dem Familiengut eingetroffen, ins heimatliche Nest der Erinnerungen, in einen kirschenblütenweißen Garten der Sicherheit. Eine schwarzweiße Kirschbaum-Kulisse (Peter Loidolt) bündelt als Sehnsuchtsort die Sinnsuche der Tschechowschen Bühnenexistenzen, die sich unter der begabten Führung der Regie-Debütantin Maria Happel so fein gezeichnet wie schon lange nicht mehr zeigen.

Happels Tschechow ist kein schwerer russischer Vielredner, sondern der sarkastische Philantrop, wie ihn Woody Allen versteht: "Bei Tschechow weinen die Leute und lachen im nächsten Moment". Happel erzählt nicht von verkrampften Beziehungskonflikten, sondern vom unterschiedlichen Wollen jeder einzelnen Figur. Bei ihr hat jede Person Recht, und davon reden sie nicht nur unentwegt, sie spielen es ganz unspektakulär echt.

Allen voran Kitty Speiser in ihrer Grandezza, hinter deren Zurückhaltung sich der Charakter Ranjevskajas zunehmend entfaltet: Ein großer Moment, wenn sie vom Verkauf des Gartens erfährt und hinter einem verhaltenen Schluchzen die tragische Verzweiflung andeutet. Zwischen perfekter Beherrschung und wildem Ausbruch will sie die Zeit aufhalten. "Sie sehen alt aus", wirft sie dem greisen Diener vor, um ein ganz logisches "Ich leb ja auch schon lange" hören zu müssen.

Tragikomisches Warten

Am Ende, wenn der Sommer vorbei und das Gut an den Kaufmann Lopachin (Martin Schwab) versteigert ist, bekommt jede Figur noch den letzten Feinschliff: Stefanie Dvoraks wunderbar unsentimentale Anja bricht in ein neues Leben auf. Der Onkel Gajev des eleganten und zugleich komischen Peter Matic, der sich in Endlosschleifen eine bessere Zeit herbeiredet, schlüpft in eine bürgerliche Bankiersexistenz und Pflegetochter Varija - die sich zukünftig als Wirtschafterin verdingen muss - bricht es schlicht das Herz. Regina Fritsch spielt sie mit ihrem verlässlich-echten Ton, in ihrer uneitlen Art entwickelt sie die Varja in all ihren Schattierungen zu einer der tragikomischsten unter den zahlreichen wartenden Tschechow-Frauen. Cornelia Lipperts in Unterkleidern tanzende Gouvernante rettet mit ihrer rauchigen Stimme den sinnlichen Rest eines Lebensgefühls. Und Urs Heftis narkoleptischem Gutsbesitzer Simeonov-Pischtschik gehören ein lachendes und ein weinendes Auge. Ganz ohne zelebrierende Würdigungs-Momente, ohne Melodramatik, die so gerne der russischen Seele zugeschrieben wird, gelingt Maria Happel eine zärtliche Verbeugung vor Tschechows ironischen Zwischentönen.

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