Geben ist seliger denn nehmem

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Philosophen und Soziologen befassen sich in den letzten Jahren verstärkt mit dem Thema des Gebens und Schenkens – quer zur kühlen Logik von Profit und Verwertung.

„Das Geben überhaupt ist eine der stärksten soziologischen Funktionen“, bemerkte bereits der Philosoph und Soziologe Georg Simmel zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Diese Aussage hatte schon damals einen anachronistischen Charakter. Für Großzügigkeit, Geschenke und Verschwendung gab es wenig Platz in einer Gesellschaft, die im steigenden Maß von der Verwertungslogik und der Profitmaximierung des Kapitalismus bestimmt wurde. Umso erstaunlicher ist es, dass in den letzten Jahren philosophische und soziologische Theorien der Gaben Konjunktur haben, in denen kulturelle Praktiken von archaischen Gesellschaften analysiert und mit Theorien von französischen Intellektuellen wie Georges Bataille, Emmanuel Lévinas oder Jacques Derrida verbunden werden.

Die Seele der Gabe

Als Ahnherr der Gabentheorien fungiert der französische Ethnologe und Soziologe Marcel Mauss, der von 1872 bis 1950 lebte. Von ihm stammt der Hinweis, dass der Gabentausch, wie er in archaischen Gesellschaften erfolgte, als Ursprung der Zivilisation anzusehen sei. In seinem 1925 publizierten Werk „Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften“ bezeichnete Mauss den Gabentausch als „ein System der totalen sozialen Tatsachen, das alle Dimensionen des gesellschaftlichen Lebens wie ökonomische, juristische, ästhetische, religiöse, mythologische und soziologische Komponenten umfasst“.

Die Grundlage für die Studie von Mauss bildeten seine ethnologischen Forschungen über die indianische Gesellschaft der Kwakiutl an der amerikanischen Nordwestküste und die Trobriander, eine Inselbevölkerung in der Nähe von Neuguinea. Dabei zeigte sich, dass eine Trias von Verpflichtungen den Gabentausch bestimmte: Die Pflicht des Gebens, des Nehmens und der Erwiderung. Besonders interessierte sich Mauss für die Frage, warum das empfangene Geschenk unbedingt einer Erwiderung bedürfe. Die Antwort fand er im Begriff des „hau“. Damit ist gemeint, dass der Gabe eine Art Seele innewohnt – eine symbolische Kraft, die vom Geber selbst kommt. „Das, was in dem empfangenen Geschenk verpflichtet“, notierte Mauss, „kommt daher, dass die empfangene Sache nicht leblos ist. Selbst wenn der Geber sie abgetreten hat, ist sie noch ein Stück von ihm.“

Eine andere Form des Gabentausches ist der Potlatsch – ein exzessives Fest des Verschenkens bei den Kwakiutl–Indianern in Nordwestamerika und ihren rivalisierenden Nachbarstämmen. Das Wort bedeutet soviel wie „geben“ und beschreibt eine Extremvariante des Gabentausches, der wie ein Wettbewerb ausgeführt wird. Der Potlatsch findet während des Winters statt. Dabei wird nach einer Zeit des extensiven Jagens und Sammeln all das verschwendet, was in der übrigen Zeit angehäuft wurde – mit der Erwartung, dass die Gaben nach dem Ablauf einer bestimmten Frist nicht nur erwidert, sondern noch großzügig überboten werden. Beim Potlatsch ist man gezwungen, alles auszugeben, was man besitzt; es darf nichts zurück behalten werden. Es ist dies eine Form des Gabentausches, die sich durch Heftigkeit, Aggressivität und Maßlosigkeit auszeichnet.

Totale Verausgabung

Obwohl der archaische Gabentausch Elemente des Wettbewerbs und der Reziprozität enthält, hat er eine beziehungsstiftende Funktion zwischen den verschiedenen Stämmen. Geben und Nehmen lösten Kämpfen und Töten ab – „dies ist eines der Geheimnisse ihrer Weisheit und ihrer Solidarität“, schrieb Mauss.

Der Gabentausch als grundlegende Form der Sozialität dient als Ausgangspunkt für die in Berlin lehrende Kulturwissenschaftlerin Iris Därmann. Sie skizziert in ihrem Buch „Theorien der Gabe“ (2010) Interpretationen des Gabentausches von Philosophen und Ethnologen wie Georges Bataille, Claude Lévi-Strauss und Jacques Derrida. In dem Kapitel über den französischen Philosophen Georges Bataille analysiert sie dessen Deutung des Potlatsch-Festes, in dem er das von ihm besonders geschätzte Phänomen der „totalen Verausgabung“ ortet. In diesem Fest erfährt die homogene Lebenswelt, in der Arbeit, Disziplin und Nüchternheit herrschen, eine Grenzüberschreitung durch „das ganz Andere“ des Exzesses, der Verschwendung und des orgiastischen Rausches, die Parallelen zum antiken griechischen Dionysoskult aufweist.

Eine Interpretation von Bataille findet sich auch in dem Buch „Geschicktes Geben“ (2004) der in Stuttgart tätigen Kulturtheoretikerin Kathrin Busch. Neben weiteren Exkursen über die Bedeutung der Gabe bei Martin Heidegger und Emmanuel Lévinas konzentriert sich die Autorin auf Derridas Dekonstruktion der Gabe, die sich im Widerstreit mit anderen Deutungen befindet. Derrida wehrt sich vor allem gegen die von Mauss vertretene Reziprozitäts-These, also dass die Gabe durch eine Gegengabe erwidert werden muss, weil sonst der Beschenkte seine Ehre verliert. „Gabe gibt es nur“, schreibt Derrida, „wenn es keine Reziprozität gibt, keine Rückkehr, keinen Tausch, weder Gegengabe noch Schuld.“ In dem Moment, im dem eine Gabe mit der Verpflichtung zur Gegengabe einhergeht, kann nicht mehr von einer Gabe gesprochen werden. Für Derrida existiert nur eine „reine Gabe“, die ihren Status dann erhält, „wenn der Gabenempfänger nicht zurückgibt, nicht begleicht, nicht tilgt, nicht abträgt und niemals in ein Schuldverhältnis tritt“.

Die Gaben der Wahrheit und Würde

Mit dem universellen Phänomen des Gabentausches beschäftigt sich auch der französische Philosoph und Ethnologe Marcel Hénaff in seinem Buch „Der Preis der Wahrheit“ (2009). Er geht von der Feststellung aus, dass es Phänomene gibt, denen man keinen Preis, sondern nur einen Wert zusprechen kann. Als Beispiel nennt er die Wahrheitsliebe des Sokrates, die er sich – im Gegensatz zum käuflich erwerbbaren Wissen der Sophisten – durch keine noch so hohe Geldsumme abkaufen lässt. Für Sokrates ist ein „Preis der Wahrheit“ undenkbar; ähnliches gilt für Künstler, Schriftsteller und Wissenschaftler. Von dieser individuellen Haltung von Philosophen und Künstlern ausgehend, die das ökonomische Kalkül verachten, entfaltet Hénaff ein facettenreiches Panorama des Gabentausches, in dem philosophische, ökonomische, ethnologische und moralische Aspekte zur Sprache kommen.

Im dritten Teil des Buches geht es um die Genese der gegenwärtigen Gesellschaft, in der das Geld – mit Karl Marx gesprochen, als universelles Tauschäquivalent und Gleichmacher regiert. Mit Marcel Mauss beruft sich Hénaff ausdrücklich darauf, dass es auch in der hoch entwickelten kapitalistischen Gesellschaft etwas gibt, was sich der Herrschaft der ökonomischen Kategorien entzieht. Dazu zählt er „ die Würde des Menschen und die Anerkennung des Anderen, die man einander gewährt und die keinen Preis haben“.

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