Gibt es gefährliche Bücher? Es gab eine Zeit, da wollte man nicht, dass Romane gelesen werden. Sie verdürben den Geist, sagte und schrieb man, und damit meinte man vor allem, sie seien nicht nützlich, brächten im Gegenteil die Leserinnen davon ab, sich zum Nutzen der (männlichen) Gesellschaft zu betätigen, vor allem im Haushalt. Vor lauter Lesen den Haushalt zu vernachlässigen, ist aus heutiger Sicht hierzulande freilich eine wenig gefährliche Angelegenheit.
Doch die Frage, ob und wieweit Bücher gefährlich sein können, ist deswegen noch lange nicht vom Tisch. Das zeigen auch die Diskussionen um blasphemische Kunst und Literatur, die in diesem Heft aufgegriffen werden, weil Salman Rushdie vor 25 Jahren "Die satanischen Verse" veröffentlichte. Und die an vielen Orten immer noch lebendige politische Zensur macht deutlich, dass Herrschende sehr wohl an die subversive Kraft der Literatur glaubten und glauben.
Unzuverlässige Erinnerung
Wie gefährlich können Bücher werden? Der Gesellschaft, aber auch dem Einzelnen? Kann jemand zur falschen Zeit das falsche Buch in die Hand bekommen und es macht einen Extremisten aus ihm?
Dieser Frage geht Norbert Gstrein in seinem jüngsten Roman "Eine Ahnung vom Anfang"(Hanser 2013) auf eine kunstvolle Weise nach, die sich jeder Vereinfachung entzieht. Mit einer Bombendrohung setzt die Handlung ein, mit religiös konnotierten Warnungen: "Kehret um!" "Erste und letzte Warnung!" und "Beim nächsten Mal wird es ernst!"
Im Verdacht, Urheber dieser Drohung zu sein, hat der Lehrer und Ich-Erzähler einen seiner ehemaligen Schüler. Mit Daniel und dessen Freund hat er zehn Jahre zuvor einen schönen Sommer am Fluss verbracht, was andere mit Argwohn betrachteten: Warum umgibt sich der Lehrer mit jungen Burschen?
Waren seine Leseempfehlungen schuld, dass aus Daniel wurde, was er ist, fragt sich nun, zehn Jahre später, der Lehrer, der mit dem Elternverein wegen seiner Lektüreempfehlungen oft Schwierigkeiten hatte. Dabei steht die Täterschaft Daniels gar nicht fest. Vieles steht in diesem Roman nicht fest, bleibt Argwohn und Mutmaßung und vielleicht auch falsche Erinnerung.
"Der Sommer, von dem ich erzählen will, mit allem, was davor war und danach, liegt jetzt zehn Jahre zurück, und auch wenn ich vieles davon vergessen geglaubt habe, kann ich meiner Erinnerung trauen." Gstreins Roman setzt mit einer Verlässlichkeit ein, die er dem Leser und dem Erzähler im Verlauf der Erzählens raffiniert zu nehmen versteht. Und bald schon heißt es: "Ich habe allen Grund, an der Zuverlässigkeit meiner Erinnerung zu zweifeln".
Das nächste BOOKLET erscheint am 3. Oktober 2013 als Beilage in der FURCHE Nr. 40/13
Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.
In Kürze startet hier der FURCHE-Navigator.
Steigen Sie ein in die Diskurse der Vergangenheit und entdecken Sie das Wesentliche für die Gegenwart. Zu jedem Artikel finden Sie weitere Beiträge, die den Blickwinkel inhaltlich erweitern und historisch vertiefen. Dafür digitalisieren wir die FURCHE zurück bis zum Gründungsjahr 1945 - wir beginnen mit dem gesamten Content der letzten 20 Jahre Entdecken Sie hier in Kürze Texte von FURCHE-Autorinnen und -Autoren wie Friedrich Heer, Thomas Bernhard, Hilde Spiel, Kardinal König, Hubert Feichtlbauer, Elfriede Jelinek oder Josef Hader!