Gefährlicher Durchschuss

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Ein Buch als Lebensretter - H. C. Artmanns Lektüre in der Wienbibliothek im Rathaus.

Von wenigen Autoren ist es so interessant zu sehen, was sie wirklich gelesen haben, wie gerade von H. C. Artmann. Denn die Geschichten, die er über seine Bücher erzählte, waren fast zu gut, um wahr zu sein. Warum sollte der poetische Flunkerer, dessen erfundener Geburtsort St. Achatz am Walde selbst in seriöse Artikel Eingang fand, nicht auch ein Buch erfunden haben. Und wenn ein Dichtersmann wie er erzählte, ein Buch habe ihm das Leben gerettet, weil es eine feindliche Gewehrkugel umgelenkt habe, so klang das wie die Selbstbegründung eines Poetenlebens.

Was hat Artmann gelesen?

Jetzt kann man das Buch sehen: in der Wienbibliothek im Rathaus, die eine der sensationellsten und berührendsten Literaturausstellungen der letzten Jahre zeigt - Artmannns Bibliothek. 2004 hat die Wien Bibliothek Artmanns Nachlass erworben, bis Ende 2005 wurden die etwa 3500 Bände in rund 70(!) verschiedenen Sprachen katalogisiert und für die allgemeine Benutzung zugänglich gemacht. Ein Glücksfall für die Forschung und für Artmannns Fan-Gemeinde.

Und jetzt ist es ausgestellt, das Artmannsche Bücherreich: nicht im Original-Chaos des "Individualanarchisten austriazistischer Prägung" (Artmann über Artmann), sondern nach Kriterien, mit denen man gezielt suchen und auch fündig werden kann. Und lesen. Denn die Wienbibliothek ist das Risiko eingegangen, die Bücher nicht wegzusperren - bis auf wenige wertvolle Exemplare kann man sie alle in die Hand nehmen. Was sie besonders interessant macht: Artmann hat in viele seiner Bücher nicht nur Ort und Datum des Kaufes eingetragen, sondern über lange Jahre auch konsequent vermerkt, wann er darin gelesen hat. Und es stellt sich heraus: Er hat als Soldat wirklich Grammatiken und Sprachlehrbücher im Tornister gehabt.

Eines davon hat ihm das Leben gerettet: Langenscheidts Universal-Wörterbuch Spanisch-Deutsch, das er in der Brusttasche trug, als ihn die Kugel traf, die seine Lunge durchschossen hätte. Der Durchschuss (mit diesem Wort bezeichnen Drucktechniker den Abstand zwischen den Zeilen) ist deutlich zu sehen, die Kugel wurde abwärts gelenkt, der Hüftschuss war eine lebenslang spürbare Verletzung, aber Artmann hat sie überlebt. Das Buch gehört seiner Tochter Emely, die es für die Ausstellung zur Verfügung gestellt hat.

Buch lenkte die Kugel ab

Da Artmann Zeit seines Lebens mehr Manuskripte vergaß, in zahlreichen Wohnungen zerstreute oder verlor als er hinterlassen hat, ist die Bibliothek sein eigentlicher Nachlass. Auch sie ist nicht vollständig - gelegentlich musste Artmann Bücher verkaufen oder zurücklassen -, aber ein hinreichender Einblick in seine Lektüre-Welt. Da sich Artmann die Maske des Barockdichters ebenso überzeugend aufsetzen konnte wie er sich die trivialen Genres des Krimis oder der Abenteuergeschichte anverwandelte, gibt die Erforschung dessen, was er gelesen hat, wichtige Einblicke nicht nur in die Entstehung seiner Werke, sondern oft auch in Bedeutungs-Spielräume.

Impulse für die Forschung

In Armans Büchern wurde auch nebenstehendes Foto mit der Maschinenpistole im Anschlag gefunden, und das vorbildliche Katalogbuch rekonstruiert u.a. wichtige Daten aus seiner Militärzeit. Die Kuratoren Marcel Atze und Hermann Böhm fördern Erstaunliches zutage, indem sie 21 Bücher aus Artmanns Bibliothek beschreiben, und Stefan Alker erkundet das Netz von Artmanns literarischen Beziehungen anhand der Widmungs-Exemplare. Und seine frühere Gefährtin Barbara Wehr - von ihr stammt die Frage "Wann ordnest Du Deine Bücher?" - berichtet über Artmanns Umgang mit Büchern. Aber auch über seine Lovecraft-Übersetzungen oder seine Comic-Lektüren kann man sich informieren. Und über die Herkunft einiger Bücher

Die Bücher werden zwar in der Wienbibliothek verbleiben, aber wer diese Ausstellung nicht sieht, weiß nicht, was er versäumt. Und das Katalogbuch ist nicht nur für die Artmann-Gemeinde von Interesse, war seine Bibliothek doch die entscheidende Anregung für viele jüngere Autoren. Die Bibliothek verkörpert sein Beziehungsgeflecht bis zu Elias Canetti und Johannes Bobrowski. Und sie zeigt H. C. Artmann, wie er lebte und schrieb.

"Wann ordnest Du Deine Bücher"

Die Bibliothek H. C. Artmann

Wienbibliothek im Rathaus

Katalogzimmer der Handschriftensammlung, Stiege 4 / Lift, 1. Stock

www.wienbibliothek.at

Bis 30. 4. Mo-Do 9-18.30 Uhr,

Fr 9-16.30 Uhr. Freier Eintritt.

Katalogbuch hg. v. Marcel Atze und Hermann Böhm, Sonderzahl Verlag 2006, 240 S., brosch., € 19,80

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