Gefangen in der Faktenlage

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Ein Satz macht mich stutzig. Dass "die Literatur im Westen immer mehr zu einer Randerscheinung der Gesellschaft verkommt", meint der indische Autor Amitav Ghosh in einem Interview mit dem Standard. Man darf sich von der Fülle jährlicher Neuerscheinungen nicht täuschen lassen, auch nicht von der Vielfalt der Theaterszene, von der die Kulturseiten der Blätter berichten. Die Frage ist vielmehr, ob Politiker und Manager noch lesen oder sich nur in der Seitenblickegesellschaft mit Künstlern sehen lassen? Ob Professoren der Wirtschafts-oder Naturwissenschaften, ob Prälaten oder Bischöfe noch Romane lesen, ins Theater, ins Kino gehen? Wenn Amitav Ghosh Recht hat, sind unsere opinion-leaders längst zu Illiteraten geworden.

Literatur befreit den Geist, öffnet einen Raum der Phantasie, des Gedankenexperiments, der alternativen Lebensentwürfe. Auch sollte man nicht übersehen, dass die Buchreligionen, die sich gern auf die Gewissheit von Regeln und Lehrsätzen zurückziehen, in Wirklichkeit auf Literatur beruhen, in der sich ihre ganze religiöse Vorstellungswelt entfaltet. Wo Literatur nur der Unterhaltung dient, Bücher nur zur Hand genommen werden, um die Langeweile zu vertreiben, kommt es, wie es kommen muss. Die österreichische Politik ist völlig phantasielos geworden, der europäischen fehlen die großen Entwürfe. Den Führungskadern der Kirchen mangeln auch angesichts gravierender Probleme weiterführende Ideen. Sie alle haben sich im Gefängnis der Faktenlage eingerichtet, winddicht abgeschottet gegen den Geist, der sie beflügeln könnte.

Lesen ist Leben nennt Cornelius Hell sein jüngstes Buch. Wenn Amitav Ghosh Recht hat, ist bereits das Gegenteil eingetreten. Lange genug nicht mehr zu lesen, erzeugt einen Zustand progressiver Leblosigkeit. Wenn Amitav Ghosh Recht hat - und es sieht sehr danach aus.

Der Autor ist freier Journalist.

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