Gefangen von der Kraft der Phantasie

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Immer wieder setzen zahlreiche Verlage auf die verzaubernde Wirkung des Buches. Drei Neuerscheinungen widmen sich der durch die Jahrhunderte ungebrochenen Lust am Lesen .

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Immer wieder setzen zahlreiche Verlage auf die verzaubernde Wirkung des Buches. Drei Neuerscheinungen widmen sich der durch die Jahrhunderte ungebrochenen Lust am Lesen .

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Entspanne dich. Sammle dich. Schieb jeden anderen Gedanken beiseite. Laß deine Umwelt im Ungewissen verschwimmen. Mach lieber die Tür zu, drüben läuft immer das Fernsehen. Sag es den anderen gleich: "Nein, ich will nicht fernsehen!" Heb die Stimme, sonst hören sie's nicht: "Ich lese! Ich will nicht gestört werden!"

Als ich die Einleitung zu Calvinos Roman "Wenn ein Reisender in einer Winternacht" zum ersten Mal las, habe ich die Tür zugemacht, meine Lampe richtig eingestellt und mich gemütlich in den Polster gekuschelt. In diesem Roman hat Calvino gleich von Beginn an das Lesen selbst zum Thema gemacht. Was auf den ersten Blick etwas ungewöhnlich scheint, trägt erst nach und nach zum vollen Genuß der Lektüre bei.

Auch bei der Betrachtung aktueller Bestsellerlisten ist Lesen nicht allein Mittel zum Zweck. So wird in Büchern wie "Literatur und Lust" (von Thomas Anz, Professor für Neuere deutsche Literatur) oder dem Lesebuch übers Lesen: "Wenn Kopf und Buch zusammenstoßen", die Tätigkeit des Lesens selbst in den Mittelpunkt gestellt (siehe nebenstehenden Kasten).

Auch der in London lebende Schriftsteller Alberto Manguel bereist in "seiner Geschichte des Lesens" alle jene Orte der Vergangenheit aber auch der Zukunft, an denen es etwas über das Lesen zu sagen gibt. Der lesende Aristoteles, der gelangweilt in seine Schriftrolle blickt, findet in dem zahlreich illustrierten Buch ebenso Platz wie Männer, die nach einem Bombenangriff im Jahr 1940 in einer Londoner Bibliothek mitten im Trümmerschutt nach unversehrten Büchern suchen. Eine "Biographie" des Büchernarren füllte neben anderen Kapiteln wie "Lesen hinter Mauern", "Vorlesen" oder "Der Autor als Leser" Seite für Seite dieser Liebeserklärung, die gelesen sein will ...

"Letztlich ist die wahre Geschichte des Lesens wohl die eines jeden Lesers", gibt Manguel im Vorwort zu. Obwohl er sich, wie er meint, um Objektivität bemüht, beginnt er mit seinen ersten persönlichen Erfahrungen in der Welt der Buchstaben: "Mit einem Mal wußte ich, was sie bedeuten. Ich hörte sie in meinem Kopf, die schwarzen Zeilen und die weißen Zwischenräume verwandelten sich in klaren, klingenden Sinn ... Seit ich die dürren schwarzen Zeichen zu lebendigen Wirklichkeiten zusammenfügen konnte, war ich allmächtig. Ich konnte lesen."

Erinnerungen an die ersten Schultage werden wach. Das erste Buch, bei dem wir niemanden mehr brauchten, der für uns die geheimnisvollen Zeichen entzifferte. Jahre danach, bereits die tausendste Seite verschlungen, haben wir schon längst vergessen, welche Begabung uns damals zuteil wurde.

Erst wenn wir uns die Zeit nehmen, wieder einmal richtig einzutauchen. Wenn wir uns in den Gestalten zwischen den Seiten wiederfinden. Erst dann kehren wir wieder an den Beginn unserer Lesegeschichte zurück. Zurück zu jenen Momenten, in denen uns Worte noch verzaubern konnten.

"Jedes spielende Kind benimmt sich wie ein Dichter, indem es sich eine eigene Welt erschafft, oder richtiger gesagt, die Dinge seiner Welt in eine neue, ihm gefällige Ordnung versetzt", zitiert Thomas Anz in seinem Buch "Literatur und Lust". Nach Freud mag der Erwachsene nicht auf den Lustgewinn verzichten, den er als Kind aus dem Spiel bezogen hat. Und so besinnt er sich aufs Lesen. Wie für den Dichter eröffnet sich auch für den Leser eine freie Welt der Phantasie.

Auch der deutsche Schriftsteller Dieter Wellershoff zog Ende der sechziger Jahre einen Vergleich zwischen Literatur und freien Spielräumen. So besitzt für ihn die lesende Person eine Ähnlichkeit mit Astronauten im Übungsraum. "Auch sie (die Literatur) ist ... ein Spielfeld für ein fiktives Handeln, in dem man als Autor und als Leser die Grenzen seiner praktischen Erfahrungen und Routine überschreitet, ohne ein wirkliches Risiko dabei einzugehen."

Wie oft haben wir mit Verlierern geweint, den Stolz mancher Sieger am eigenen Leib verspürt und uns in die selben Figuren verliebt, wie Tausende anderer Leser auch?

Die verzaubernde Wirkung des Lesens hat bereits beim Spuren-Lesen auf der Jagd begonnen. Schon damals seien jene Hirnregionen aktiv gewesen, die später die Kulturtechnik des Lesen ermöglichten, beschreibt Anz. Doch der rote Faden, der sich hier durch die Entwicklung zu ziehen scheint, schafft noch lange keine Chronologie, wie wir sie zum Beispiel aus der politischen Historie kennen. Dieser Meinung ist zumindest Manguel und er meint beispielhaft: "Die Lesevorschriften des Spätmittelalters ... waren wesentlich klarer und verbindlicher als die, welche man im Wien oder im England der Jahrhundertwende lehrte." Wie der Akt des Lesens, so springe die Geschichte des Lesens immer hin und her - "zu mir in die Gegenwart, ... dann wieder zurück in ein fernes Jahrhundert."

Gilt das Lesen heute neben all den anderen Möglichkeiten als redlichste Form der Unterhaltung und Informationsbeschaffung, so sollten wir uns daran erinnern, daß auch im Konsum von Büchern zahlreiche Gefahren vermutet wurden. Mit "Lesewuth" oder Seuche drohten Kulturkritiker im späten 18. Jahrhundert, Leihbibliotheken wurden als "moralische Giftbuden und Bordelle" bezeichnet - die literarischen Stimulanzien der Phantasie als Gift zu diskreditieren war durchaus üblich.

Doch wenn sich auch keine wirkliche Chronologie in der Geschichte finden läßt, so scheint zumindest eines immer wiederzukehren. Wie bei Calvio, oder aktueller bei Manguel und Anz wurde die Handlung des Lesens auch schon in der Vergangenheit zum Inhalt zahlreicher Bücher.

Beim Helden Don Quijote zum Beispiel, der durch die exzessive Lust an der Lektüre von Ritterromanen den Verstand verliert. Oder in Michael Endes Erzählung von dem lesenden Jungen Bastian, der sich vor dem langweiligen Schulunterricht auf einen Speicher zurückzieht und dort von seiner eigenen Phantasie in den Bann gezogen wird - eine unendliche Geschichte.

Allesamt versuchen sie zu erfassen, worin diese Faszination des Lesens liegt. So auch der türkische Romancier Orhan Pamuk, der die Bedeutung des Lesens in seinem Buch "Die weiße Festung" mit wenigen Worten auf den Punkt bringt: "Man kann das Leben, diese einmalige Kutschenfahrt, nicht neu beginnen, wenn es vorüber ist, aber wenn man ein Buch in der Hand hält, ganz gleich, wie schwierig es zu verstehen ist, kann man am Schluß zum Anfang zurückkehren, von vorne beginnen, um das Schwierige und damit das ganze Leben zu begreifen."

Über Glück und Unglück des Lesens Haben Sie schon einmal vergessen, an der richtigen Haltestelle auszusteigen, weil sie die letzten Zeilen Ihres Buches nur so verschlungen haben? Oder gehören Sie zu jenen Fahrgästen, die einem in der U-Bahn immer über die Schulter schauen, obwohl sie eh nur ein paar Schlagzeilen erhaschen können? Weder das eine, noch das andere sagen Sie? Dann sollten Sie in "Literatur und Lust - Glück und Unglück beim Lesen" erst recht nachschlagen, was Ihnen bisher entgangen ist. Laut Autor Thomas Anz richtet sich dieses Buch nämlich nicht nur an Literaturwissenschaftler, ... sondern an alle Literaturliebhaber, die Genaueres über ihre Lust beim Lesen wissen wollen - und damit auch über sich selbst.

Weitreichende Informationen, zahlreiche Zitate und viele kleine auflockernde Erzählungen verpackte Alberto Manguel in "seiner Geschichte des Lesens". Die Historie jener Tätigkeit, die Mens+chen und Bücher schon seit jeher verbindet, wird unter verschiedensten Aspekten beleuchtet. Illustrationen wie Bilder von hierarchischen Schulszenen aus dem 15. Jahrhundert, eine lesende Sklavin oder das kleinste Buch der Welt ziehen den Leser noch tiefer in die umfassenden Betrachtungen hinein. Der Aufmachung des Buches wurde ein besonderer Wert verliehen. So verleitet schon das Streichen über den dunkelgrünen Umschlag zum Besitz dieser "Geschichte des Lesens".

Insgesamt 18 deutschsprachige Schriftsteller und Schriftstellerinnen berichten von ihren Buch- und Leseerlebnissen. Michael Köhlmeier zum Beispiel, der von einem Buch Samuel Becketts berichtet, daß ihn beinahe zum Wahnsinn trieb, ohne daß er es je gelesen hatte. Oder Patrick Süskind, der von der "Amnesis in litteris", dem vollständigen literarischen Gedächtnisschwund, zu berichten weiß. "Wozu denn lesen?" fragt er, "wozu denn etwa dieses Buch noch einmal lesen, wenn ich dort weiß, daß nach kürzester Zeit nicht einmal mehr der Schatten einer Erinnerung davon zurückbleibt." Doch auch er findet Gründe, es trotzdem wieder zu versuchen.

WENN KOPF UND BUCH ZUSAMMENSTOSSEN Ein Lesebuch übers Lesen. Herausgegeben von Thomas Tebbe. Piper Verlag, München, Zürich 1998. 200 Seiten, öS 88, LITERATUR UND LUST Glück und Unglück beim Lesen. Von Thomas Anz. Verlag C. H. Beck, München 1998. 281 Seiten, öS 291, EINE GESCHICHTE DES LESENS Von Alberto Manguel. Verlag Volk & Welt, Berlin 1998. 432 Seiten, öS 423,

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