Gefühle sind nicht blind

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Emotionen setzen Überzeugungen voraus, haben einen Inhalt - und machen den Menschen erst menschlich.

Die Frage "Wie viel Gefühl braucht der Mensch?" klingt ein wenig wie die Frage: "Wie viel Sprit braucht dein Auto?" Das macht diese Frage insofern verdächtig, als Menschen keine Maschinen sind (allerdings mit den Kraftfahrzeugen das Automobile gemein haben). Die Frage "Wie viel Gefühl braucht der Mensch?" scheint auch nahe zu legen, dass man Gefühle messen kann, dass es ein "Quantum" an Gefühl gibt, das zugeteilt oder ausgeteilt oder umverteilt werden kann. Dieser Gedanke gemeinsam mit der Rede von der "Investition von Gefühlen" und der Rede von "Selbstmanagement" lassen Gefühle zu einer Angelegenheit werden, die man "managen" kann. Und ohne diesen Gedanken wür-de die Werbebranche schwerlich auskommen. Von einschlägigen Trainern und Supervisorinnen, Coaches und Couches ganz zu schweigen.

Mensch oder Maschine?

Aber kehren wir nach diesen vorsichtigen Hinweisen auf mögliche stillschweigende Voraussetzungen zur Frage zurück. "Wie viel Gefühl braucht der Mensch?" Gegenfrage: Hat "Menschlichkeit" nicht wesentlich mit der Fähigkeit, Gefühle zu deuten, Gefühle zu zeigen, Gefühle zu erwidern, zu tun? In Coetzees Roman "Warten auf die Barbaren" wird ein unmenschlicher, weil gefühlloser Offizier geschildert, der emotionslos und effizient subtile Folter einsetzt. Er wird als unmenschlich geschildert, als unbeeindruckbar, als stets diszipliniert, als unnahbar, als kontrolliert. Gefühle sind wesentlicher Teil dessen, was wir "Menschlichkeit" nennen. Menschlichkeit hat damit zu tun, gerührt und berührt werden zu können. Gefühle sind ein Mittel gegen die Gleichgültigkeit.

Maschinen werden mitunter als "unmenschlich" angesehen, weil sie emotionslos, ohne Blick für den Einzelfall und die besondere Situation ihre Aufgaben erledigen. Man lernt viel über Gefühle, wenn man sich Maschinen ansieht. Die Schwelle zwischen Mensch und Maschine wird wesentlich durch die Rolle von Gefühlen bestimmt. Hier hat die Künstliche Intelligenz (KI)-Forschung eine Grenze entdeckt. In der zeitgenössischen KI-Forschung wird die Rolle von Emotionen immer stärker akzentuiert. Emotionen erfüllen eine Filterfunktion, bestimmen vernünftige Entscheidungen mit und lassen Handeln als intelligent erscheinen. Zusammen mit dem Gedanken, dass es eine Vielzahl von Intelligenzen gibt (sprachlich/musisch, mathematisch/räumlich, körperbezogen, intrapersonal und interpersonal) ergibt dies den wichtigen Gedanken, dass Gefühle für Intelligenz, für Erkennen und Verstehen notwendig sind.

Gefühle spielen im Erkenntnisprozess eine ganz entscheidende Rolle. Der Satz "Lasst uns die Dinge emotionslos betrachten" wird den Dingen in vielen Fällen gerade nicht gerecht. Pierre Nora hat zwischen "heißer" und "kalter" Geschichte unterschieden. "Heiße Geschichte" ist jener Teil der Vergangenheit, der noch nicht abgekühlt ist, an dem noch Emotionen hängen, wie etwa die Nazi-Zeit oder der Vietnamkrieg. Man wird "heißer Geschichte" im Besonderen und "heißen Themen" im Allgemeinen nicht gerecht, wenn man die Gefühle, die hier beteiligt sind, nicht entsprechend berücksichtigt. Und dazu bedarf es bestimmter Gefühle. Wenn wir behutsam und vorsichtig, rücksichtsvoll und weise mit etwas oder jemandem umgehen wollen, müssen wir Gefühle, Wissen über Gefühle und Gefühle über Gefühle mitbringen.

Weises Mitgefühl

Weisheit ist eine Qualität menschlichen Erkennens, die immer auch eine affektive Komponente hat. Der weise Mensch ist nicht derjenige, der aus der Sicht der Nichtbeteiligung die Dinge objektiv beurteilt, sondern derjenige, der aus reicher und wohl auch leidvoller Erfahrung Wesentliches gelernt hat. Es kommt nicht von ungefähr, dass in vielen religiösen Traditionen das Verständnis des weisen Menschen mit dem Begriff des "Mitfühlens" in Zusammenhang gebracht wird.

Einfühlsame Argumente

Die Rolle von Gefühlen im Erkenntnisprozess kann man auch daran erkennen, dass die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme entscheidend für unser Verständnis von Rationalität ist. Um aber die Perspektive eines anderen übernehmen zu können, bedarf es bestimmter Gefühlsmomente. Gefühle braucht man auch, um Argumente gewichten und einschätzen zu können. Die Argumentationstheorie kann uns zwar sagen, was ein gültiges Argument ist, aber nicht, wie wir ein Argument gewichten können. Hier sind neben "kalten Daten" auch "warme Faktoren" wie Geschichten, Schicksale und Erfahrungen zu berücksichtigen. In diesem Sinne reden wir ja auch von "Sprachgefühl" und der Fähigkeit, "zwischen den Zeilen" zu lesen. In der Moralphilosophie, wo die Grenzen von Argumenten besonders deutlich werden, wird der Rolle von Intuitionen, die immer auch eine affektive Komponente haben, mehr Aufmerksamkeit geschenkt.

Gefühle sind entscheidend im Erkenntnisprozess auch deswegen, weil wir mit Gefühlen erkennen. Gefühle sind nicht, wie mitunter angenommen, "blind". Gefühle sind "über etwas", sie haben einen Gegenstand, auf den sich die Aufmerksamkeit richten kann; Gefühle sagen etwas - und zwar etwas Wertendes - über diesen Gegenstand aus, implizieren Überzeugungen in Bezug auf diesen Gegenstand. Gefühle haben also eine kognitive Qualität und sind eine Weise des Erkennens. Gefühle sind nicht "blind" und auch nicht "leer"; sie setzen Überzeugungen voraus und haben einen Inhalt.

Gezähmte Emotionen

Gefühle sind eine Realität - so stellt sich die Frage, wie wir damit umgehen sollen. Thomas von Aquin macht sich in seiner "Summa" Gedanken über Gefühle und das Zähmen unserer Gefühle; er geht von einem möglichen "Zuviel" an Gefühlen aus: Wie bändigt man "Zorn" oder "Hass"? Das aristotelische Menschenbild hat uns nahe gelegt, dass die Vernunft die Gefühle kontrollieren kann und soll. Mittlerweile ist man hier - auch angesichts eines "plastischeren" Vernunftbegriffs - etwas vorsichtiger. Das Menschenbild des nutzenmaximierenden "homo oeconomicus" wird auch zusehends differenziert gesehen - empirische Forschungen haben gezeigt, dass bei Transaktionen nicht nur die Nützlichkeit zählt, sondern auch Faktoren wie "Fairness" berücksichtigt werden. Und wer würde bestreiten, dass "Fairness" auch etwas mit Gefühlen zu tun hat?

Recht auf Echtheit

Ein Letztes: Es könnte hilfreich sein, von einem "Recht auf Gefühle" zu sprechen; nicht in einem juristischen Sinne, aber doch so, dass wir Menschen Gefühle zugestehen, auch negative Gefühle, Gefühle wie Trauer beispielsweise. Ich denke, dass die Fähigkeit, Traurigkeit zu empfinden, Tiefes hervorbringen kann und entscheidend für das Menschliche ist. Wir wollen echte Gefühle. Robert Nozick hat einmal ein Gedankenexperiment vorgeschlagen: Würden Sie sich permanent an eine Maschine anschließen lassen, die Ihnen sämtliche Gefühle und Erfahrungen generieren könnte, die Sie sich wünschen? Nozick meint, dass die wenigsten Menschen dies tun würden - wir wollen, dass unsere Gefühle "echt" sind. Die Frage "Wie viel Gefühl braucht der Mensch?" verwandelt sich somit in die Frage: "Welche Gefühle brauchen wir - und wie gehen wir damit um?"

Der Autor ist Professor für Erkenntnistheorie und Religionswissenschaft an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Salzburg.

Clemens Sedmak wird im Rahmen der 53. Internationalen Pädagogischen Werktagung Salzburg am Freitag, 16. Juli, um 9 Uhr 15 im Carabinierisaal der Salzburger Residenz zum Thema "Mitfühlen" referieren.

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