Gegen den demokratischen ALPTRAUM

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Nach Brexit und Wahlwiederholungserkenntnis. Wie kann man dem Volk sein Vertrauen in die Politik zurückgeben? Welche Instrumente der Mitbestimmung gäbe es?

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Nach Brexit und Wahlwiederholungserkenntnis. Wie kann man dem Volk sein Vertrauen in die Politik zurückgeben? Welche Instrumente der Mitbestimmung gäbe es?

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Wem das Debattieren über die Demokratie gar zu rechtlich und höchstgerichtlich trocken wird, kann sich an Geschichten und Zufällen gütlich tun, die die Geschichte der Demokratie beleben. Eine äußerst beliebte Figur ist einer der demokratischen Vorkämpfer, Ephialtes. Er hat sich im 5. Jahrhundert vor Christus dem Kampf gegen die Eliten Athens verschrieben, und konnte tatsächlich den Areopag, den Rat des Adels entmachten. Für die entthronte Elite war sein Name Programm, denn Ephialtes bedeutet auf Griechisch Alptraum.

Nun sagen aber nicht wenige Politikwissenschafter im Gefolge knappster Wahlausgänge, Wahlanfechtungen, Wahlwiederholungen (Österreich) und umstrittener Referenden (Großbritannien), dass dem ja auch heute wirklich noch so wäre: dass die Demokratie weiterentwickelt werden müsse, um eben nicht in ein "ephialtisches" Drama für die Volksherrschaft zu geraten.

Sehen wir uns also Möglichkeiten und Modelle an, die Demokratie mit neuen Instrumenten auszustatten, die politikverdrossenen Wählern Anreize geben sollen, sich an Debatten und Wahlgängen zu beteiligen.

Vorschläge dazu gibt es zuhauf: Vom E-Government zur Liquid Democracy. Vieles davon erweist sich bei näherem Hinsehen als Versprechen, wenig davon als umsetzbar.

Erprobt und erfolgreich scheint die Teilnahme der Bevölkerung an politischen Prozessen auf Gemeindeebene, auch in Österreich. Hier haben sich Bürgerinitiativen vor allem zu Themen wie Raumordnung, Verkehr, Natur- und Denkmalschutz gebildet. "Dass die betroffene Bevölkerung nicht erst unmittelbar vor Beschlussfassung über geplante Projekte flüchtig informiert wird", ist das Ziel der "Aktion 21 Austria", einem Zusammenschluss heimischer Bürgerinitiativen mit über hunderttausend aktiv Gewordenen.

Interesse schaffen

Den Aktivisten gehe es nicht nur darum, einzelne Projekte zu verhindern. Sie wollten auch mehr Bewusstsein dafür schaffen, sich für politische Prozesse im eigenen Umfeld zu interessieren und sich selbst einzubringen, so "Aktion 21"-Sprecherin Herta Wessely. Meist organisieren sich die Leute allerdings erst dann, wenn sich eine negative Veränderung in ihrem Lebensumfeld auftut, wie etwa der HCB-Skandal im Görtschitztal oder der geplante Bau des Lobau-Tunnels. Während die Gemeindeebene also ein gut zu bestellendes Feld zu sein scheint, ist es auf nationaler Ebene schwerer, erfolgreiche Beispiele zu finden, von der Schweiz einmal abgesehen.

Das beruht zum einen auf der Ablehnung der direkten Demokratie durch die Politik. Wie sagte doch Franz Josef Strauss so beleidigend wie beleidigt: "Vox Populi, vox Rindvieh". Der Berliner Philosoph Richard Schröder sieht hingegen nicht Volksdummheit als Gefahr, sondern dass "die Gefahr der Emotionalisierung bei Volksentscheiden viel höher ist als bei parlamentarischen Entscheidungen".

Schröders Analyse deckt sich mit dem Ergebnis zahlreicher Referenden: Der Brexit muss neben dem Votum gegen Bürokratie in Brüssel auch als Referendum gegen die Eliten gesehen werden. Das Referendum über den EU-Verfassungsvertrag 2005 ging in Frankreich als Abstimmung über schlechte Arbeitsmarktdaten über die Bühne. Genauso war das Referendum 2008 in Irland über den Vertrag von Lissabon von Elitenbashing geprägt. Das Beispiel Irland zeigt auch, wie wandelbar Emotionen sind: Die erste Abstimmung endete mit 53 Prozent Nein-Stimmen. Ein Jahr später entschieden 67 Prozent mit Ja. Trotz der vielen Fragen, die Referenden aufwerfen würden, sehnen sich 79 Prozent der Österreicher nach mehr direkter Demokratie - und das obwohl nach einer IFES-Studie nur 19 Prozent politisch interessiert sind.

Aber welches demokratiepolitische Potenzial bergen Instrumente wie die elektronische Stimmabgabe oder das E-Voting? Das ältere Instrument, die elektronische Stimmerfassung im Wahllokal, steckt auch nach 20-jähriger Erprobung in den Kinderschuhen. Versuche in Finnland und Deutschland scheiterten oder führten zu Wahlwiederholungen. In den Niederlanden wiesen Wahlmaschinengegner nach, dass es bloß fünf Minuten braucht, das System zu hacken. Die Philippinen waren 2010 das erste Land, das eine Parlamentswahl rein mit elektronischer Stimmabgabe durchführte. Eine Probe zeigte, dass von 82.000 Wahlmaschinen 76.000 mit defekten Speicherkarten arbeiteten. Die Stimmen wurden willkürlich verteilt. Als sei nichts passiert, ließ die Regierung dennoch mit dem defekten System wählen.

Internetwahl umstritten

Ganz in den Anfängen stecken Wahlformen per Internet. "Eine Online-Wahl von zu Hause aus wäre zwar ein sehr niederschwelliger Wahlmodus, aber es gäbe das Problem der Personen-Identifizierung", warnt Demokratieforscher Gert Valchars von der Uni Wien. Außerdem seien die Motive, nicht wählen zu gehen, meist ganz anderer, nämlich inhaltlicher Natur. Praktikabel wäre eine Umstellung auf das Online-System auch nicht: "Man müsste weiter die Papierwahl anbieten und hätte die Kosten für zwei Systeme zu tragen."

Allein in Estland funktioniert das E-Voting bei nationalen Wahlgängen mit steigendem Erfolg. Bei den Europawahlen 2014 waren es schon 31 Prozent. Es gibt aber Anhaltspunkte, dass in Estland alles so gut funktioniert, weil man die Schwachstellen des Systems nicht sehen will. 2014 prüfte ein Team von internationalen e-Voting-Experten die estnischen Wahlen - mit alarmierenden Ergebnissen: "Das System ist offen für Cyberattacken", so die Experten. Die dringende Empfehlung, das Internetwahlsystem auszusetzen, ignorierten die estnischen Behörden.

Vom demokratischen Potenzial der digitalen Gesellschaft ist der Soziologie-Professor Dirk Helbing von der ETH Zürich überzeugt. Online könnten Leute einfacher mobilisiert werden, eine Petition zu unterschreiben oder von einer Demonstration erfahren. Mit der Bürger-App des Landes Tirol etwa erhält jeder Bürger Einsicht in die Finanzen aller Tiroler Gemeinden und ein Mitspracherecht bei Investitionsentscheidungen der eigenen Gemeinde. Dass das Prinzip der 51-Prozent-Mehrheiten die Interessen der halben Bevölkerung vernachlässigt und zu politischer Frustration führt, haben sowohl das Brexit-Referendum als auch die heimische Bundespräsidentschafts-Wahl eindrücklich gezeigt. "Wir müssen nun den Schritt zu Institutionen wagen, die kollektive Intelligenz fördern", meint Helbing. Die digitale Transformation der Gesellschaft sei mit der industriellen Revolution vergleichbar.

Der Brexit sei ein Symptom dieses Übergangs. "In diesem gesellschaftlichen Transformationsprozess sind viele kleine Unfälle wie der Brexit besser zu bewältigen als ein großer wie eine Revolution oder ein Weltkrieg." Sein Ausblick ist aber nicht ganz so pessimistisch: "Wenn wir die richtigen Konsequenzen ziehen, werden wir bald ein besseres Europa haben, mehr Regionalität, mehr Diversität, mehr Bürgerpartizipation."

Auf der anderen Seite fürchten Pessimisten, dass die Vision der technologiegestützten Mitbeteiligung mit all den Manipulationsmöglichkeiten zu viel weniger Bürgermacht und zu mehr Skandalen und neuer Enttäuschung führen wird. Dann wäre der Alptraum des Ephialtes wirklich geworden: die selbstdemontierte Demokratie.

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