Gegen die Gegenwartsfreaks

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Zum 50. Todestag von Giuseppe Tomasi di Lampedusa, dem Verfasser des Romans "Il Gattopardo", am 23. Juli.

Der einzige Roman des sizilianischen Schriftstellers Giuseppe Tomasi di Lampedusa, Il Gattopardo, erschien 1958 posthum und wurde gleich als ein Meisterwerk erkannt. 2002 (deutsche Übersetzung 2004) erschien eine zweite Ausgabe. Der Titel der ersten deutschen Übersetzung von 1959, Der Leopard, ist zoologisch inkorrekt. Das Wappentier des Protagonisten Don Fabrizio Corbèra, des Fürsten Salina, ist der Ozelot, die Pardelkatze.

Beide Bezeichnungen taugten nicht als Titel, deshalb behilft sich die neue Übersetzung von 2004 gemischtsprachig: Der Gattopardo. Im Text selbst ist es dann die Pardelkatze. Lucchino Viscontis berühmte Verfilmung von 1963, mit Burt Lancaster, Claudia Cardinale und Alain Delon, wird nicht so bald ein Remake erfahren; das heißt, der Leopard wird neben der Pardelkatze weiterleben.

Viscontis "Leopard"

Die Spielzeit beginnt mit dem Jahr 1860. Der Freiheitskämpfer Giuseppe Garibaldi ist mit seinen Anhängern in Marsala gelandet, mit dem bourbonischen "Königreich beider Sizilien" geht es zu Ende, die Einigung des Nationalstaates Italien unter Vittorio Emanuele II. steht bevor. Don Fabrizio denkt sich seinen Teil über die "schlitzohrigen Landliberalen" Siziliens und die italienische Bourgeoisie als Betreiber der nationalen Einigung und bleibt bourbonisch gesinnt.

Nichtsdestoweniger hört er sehr wohl auf die Worte seines Neffen Tancredi, des verarmten Fürsten Falconieri, der sich an der Revolution beteiligt und verhindern will, dass "die uns eine Republik bescheren". Tancredis Worte sind im politischen Diskurs über den italienischen Süden viel zitiert worden: "Se vogliamo che tutto rimanga com' è, bisogna che tutto cambi". Die deutsche Übersetzung hat sogar mehr Stakkato als das Original: "Wenn alles bleiben soll, wie es ist, muss sich alles ändern."

Der aristokratische Blick

Ein bloßer "Herr Corbera" möchte aber Don Fabrizio, wie er spöttisch vermerkt, nicht sein, und er wird im neuen Königreich bleiben, was er ist: Fürst. Er übernimmt Tancredis Blick auf die neuen gesellschaftlichen Verhältnisse und begünstigt dessen Verbindung mit Angelica, der Tochter des reichen Emporkömmlings Calogero Sedàra, votiert bei der Abstimmung für die Republik und nimmt hin, dass die Liberalen die Wählerstimmen des Ortes Donnafugata auf volle 100 Prozent hinaufgeschwindelt haben. "Don Fabrizio konnte es damals nicht wissen" - jetzt spricht als Erzählmedium der Autor und Aristokrat Tomasi di Lampedusa -, "aber ein Teil der Trägheit, der Unterwürfigkeit, derentwegen die Menschen in den folgenden Jahrzehnten geschmäht werden sollten, hatte seinen Ursprung in der törichten Annullierung der ersten Bekundung von Freiheit, die sich diesem Volke je geboten."

Lampedusas Leben

Der 1957 in einer Klinik in Rom verstorbene Giuseppe Tomasi die Lampedusa lebte, nur durch die Teilnahme am Zweiten Weltkrieg unterbrochen, vorwiegend in seiner Geburtsstadt Palermo und in Santa Margherita Belice (das ist das Donnafugata des Romans). Er genoss eine klassische Bildung, war mit einer Baltin verheiratet, war nie Faschist, war vor dem Roman nur mit kleineren Arbeiten hervorgetreten. Der Übersetzer hält fest, dass Tomasi di Lampedusa lediglich in den Jahren 1954 bis 1957 seine "pigrizia" (Trägheit), die er selbst den Sizilianern mit Kritik und Selbstironie zuschrieb, überwunden habe. Da Tomasi keiner literarischen Strömung zugerechnet werden kann, ist der Roman ein bewunderter Solitär geblieben.

Nachdem Tomasi di Lampedusa mit, wie er meinte, einer Erzählung über die Landung Garibaldis begonnen hatte, unterbrach er die Arbeit, um seine Kindheitserinnerungen zu schreiben. Sofort begannen reiche Gedächtnisquellen zu sprudeln, die die geplante Erzählung in einen Roman verwandelten und nach Aussage seiner Witwe noch für einen zweiten Roman, I gattini ciechi (Die blinden Kätzchen) gereicht hätten.

Die Erzählung Aufstieg eines Pächters sollte diese Fortsetzung einleiten, die dann der Tod verhinderte. Vielmehr musste der Autor noch die Ablehnung seines Gattopardo beim Verlag Mondadori erleben; auf Betreiben Giorgio Bassanis (bald danach Autor von Il giardino dei Finzi-Contini, 1962) druckte der Verlag Feltrinelli das Manuskript, vorsichtigerweise in 3000 Exemplaren. Aber noch im Erscheinungsjahr bahnte sich einer der größten Erfolge des Verlagshauses an.

Unerwarteter Welterfolg

Der Roman spielt zum Großteil nach der Landung Garibaldis, reicht aber bis 1910. Die Figurenkonstellation ist teils autobiografisch umgesetzt, teils erfunden. Calogero Sedàra ist der bürgerliche, raffgierige Aufsteiger, der seine Landkäufe mit Geldgeschäften zu verbinden weiß, die sizilianische Variante eines in Europa sich herausbildenden Typs der "Gründerzeit". Don Fabrizio ist er, weil er von allem Schönen den Tauschwert taxiert, herzlich zuwider.

Hochadel und Neureiche

Tancredi Falconieri, adeliger Revolutionär, etabliert sich im neuen Staat als Abgeordneter und Diplomat. Nach seiner Verlobung mit der schwerreichen Erbin Angelica gehen die beiden daran, geheimnisvolle, unbenützte Zimmer im riesigen Palast von Donnafugata zu erforschen. Ihre Schilderung verbindet Tomasi auf unnachahmliche Weise mit der Erregung, mit der sie sowohl die Räume als auch die Geheimnisse ihrer erotischen Anziehung erforschen und entdecken. Als der erste Rausch verflogen ist, dominiert Vernunft: Er macht sie zur Hochadeligen, sie ebnet ihm mit ihrem Geld die Karriere.

Don Fabrizio, der Gattopardo, ist in Teilen Tomasis Urgroßvater Don Giulio di Lampedusa nachgebildet. "Riesig und ungewöhnlich kräftig", blond durch die Abstammung von einer deutschen Mutter, dominiert er die Familie. Er ist an die 50 Jahre alt, seinen autoritären Habitus, auch gegen seine Frau und seine durch Tancredis Verlobung schwer enttäuschte Tochter Concetta, verbirgt er nicht. Die anderen, so meint er, treiben "steuerlos im langsamen pragmatischen sizilianischen Fluß" - eine Umschreibung von Dekadenz. Wie sein familiengeschichtliches Vorbild betreibt er Astronomie, mit Reputation in der Fachwelt.

Roman einer anderen Zeit

Zu Beginn ist es ein historischer Roman. In seiner Zeitgeist-Diagnose Paare, Passanten (1980) wollte der deutsche Schriftsteller Botho Strauß einen Ärger loswerden: "Wenn in einem Film wie Viscontis Leopard der Fürst den Diener ruft, damit dieser ihm in den Rock helfe, vernehmen wir aus dem Publikum den schlappen Seufzer eines sozialkritischen Fräuleins, und mit einem "Achgottachgott" oder "Aua aua" wird […] die Figur des Fürsten […] abgekanzelt. Diese Gegenwartsfreaks sind nicht mehr bereit, irgendeinen Abstand zwischen der Geschichte und sich selber […] anzuerkennen. Sie beziehen die Zeichen der Erzählung unmittelbar auf sich und messen alles an ihrem eigenen herunterdemokratisierten formlosen Gesellschaftsbewußtsein."

Botho Strauß hat Recht: Das Erfassen eines historischen Romans, oder das Erschauen seiner Verfilmung, will gelernt sein. Sekundierend kann man Orhan Pamuk, Literatur-Nobelpreisträger von 2006, heranziehen: "Es geht nicht um die"--in diesem Falle historische - "Gelehrsamkeit des Autors, sondern um seine Kreativität. Wenn dies […] gut gemacht ist, vermittelt es uns das Gefühl, dass die Literatur eine Alternative zur Geschichte sein kann, dass man über Geschichte hinausgehen kann."

Ende einer Lebensform

Und so ist es, nach dem vierten von acht Teilen, nicht mehr ein dominant historisch-biografischer Roman. Eigentlich von der ersten Zeile an - der Schlussformel des Familiengebets "Nunc et in hora mortis nostrae. Amen" - sind Verfall und Tod als übergreifende Themen präsent. 50 Jahre später, am Schluss des Romans, fliegt das von Motten zerfressene Fell der damals von allen geliebten Dogge Bendico in einen Winkel des Hofes.

Mit anderen Beispielen aus der Weltliteratur teilt Der Gattopardo ein allgemeineres Thema: das Ende einer Lebensform, die einer anderen weichen muss, z. B. die Buddenbrooks den Hagenströms bei Thomas Mann, in Margaret Mitchells Gone with the Wind die auf ihre Weise aristokratische Südstaatengesellschaft den Yankees, in William Faulkners ima-ginärem Yoknapatawpha County die Sartoris den Snopes.

Verfall und Ermüdung: Zunächst geht es um Sizilien. In einem Brief vom Mai des Jahres 1957, dessen Ende er nicht mehr erlebte, schrieb Tomasi di Lampedusa: "Sizilien ist was es ist; das von 1860, das von früher und das seit je." Als im Roman ein Abgesandter der Regierung in Turin den Fürsten dazu bewegen möchte, sich zum Senator des konstitutionellen Königreichs ernennen zu lassen, folgt eine ausführliche Antwort über das Sizilien, wie es Tomasi in jenem Brief einschätzte.

Es ist eine rhetorisch glanzvolle Beschreibung der Mentalität der Sizilianer, auch wenn man heute einiges anders lesen mag. Es geht um historische Ursachenforschung, um die "Last großartiger heterogener Kulturen auf unseren Schultern"; es geht um die Geschichte Siziliens unter Fremdherrschaften, "zum großen Teil unsere Schuld; trotzdem sind wir müde und ausgelaugt." Das Verlangen nach Schlaf und Vergessen beherrsche die Insel. Zwar konzediert der Fürst, dass es auch ein paar "Halbwache" gebe, aber er selbst gehöre einer "unglückseligen Generation zwischen den alten und neuen Zeiten an", und er schlägt - zur Überraschung des Emissärs - Calogero Sedàra vor.

Unglückliche Generation

Den Einwand, wenn die aufrichtigen Männer sich zurückziehen, bleibe der Weg frei für skrupellose Leute wie die Sedàras - ein Hinweis Tomasis auf die Mafia? - tut der Fürst mit der Antwort ab, die Sizilianer würden, weil sie von selbstgenügsamer Vollkommenheit träumen, keine von außen gewünschte Verbesserung ihrer Lage akzeptieren. Für sich denkt er: "Wir waren die Pardel, die Löwen; die uns ersetzen, werden die Schakälchen sein, die Hyänen."

Verfall und Tod: Tomasi leitet es mit der Fahrt zum Ball im Palast Ponteleone ein. Man begegnet einem Priester mit Ministranten und Sterbeglöckchen, Don Fabrizio steigt aus und beugt das Knie. Auf dem Ball sieht er die immer gleichen zweihundert Personen, und die jungen Ball-Damen nimmt er so wahr: "Cousin-Ehen, proteinarme, kohlehydratreiche Ernährung, Mangel an frischer Luft" haben "unerträglich quakende Backfische" hervorgebracht.

Aus seiner Misslaunigkeit heraus entspringt aber auch sein "Mitleid für diese vergänglichen Wesen, die den schmalen Lichtstrahl auszukosten versuchten, der ihnen zwischen den zwei Finsternissen gewährt wurde: der vor der Wiege, der nach den letzten Zuckungen." Bei all dem bleibt ihm bewusst, dass er Teil von ihnen ist. Aus seiner Melancholie reißt ihn erst ein Walzer mit Angelica, der Schönsten im Saal. Aber als der Tanz zu Ende ist, fühlt sich Don Fabrizio vom Tode berührt.

Zeitsprung: Im 7. Kapitel, im Juli 1883 der erzählten Zeit, geht es ans Sterben. Das Gefühl des Vergehens hat der Gattopardo seit langem gehabt; Tomasi setzt das Symbol des Stundenglases ein, dessen Sandkörner Don Fabrizio rieseln hört. Nach der Rückkehr aus der Klinik in Neapel, wo man ihm eine Diagnose verheimlicht hat, die er aber ahnt, wird aus dem Rieseln des Sandes das "Tosen" des aus ihm hinausströmenden Lebens.

Höhepunkte eines Lebens

Er bilanziert wenige Höhepunkte: einige "herzhafte Gelächter" mit seinem Jagdgefährten, "ein paar Augenblicke glühender Liebe", die öffentliche Auszeichnung als Astronom, ein paar Blicke auf schöne Frauen, das Betasten von Seide und feinem Leder. Plötzlich erscheint im Sterbezimmer eine junge schöne Dame und geht, sich bei den weinenden Angehörigen entschuldigend, auf ihn, den sterbenden Ästheten, zu: "Sie war es, die seit immer Ersehnte, die ihn holen kam."

Im Italienischen ist der Tod, la morte, weiblich. - Der Dichter Percy Bysshe Shelley (1792-1822), Vertreter der Romantik in England, hat die Phase des Schöpferischen mit einem verglühenden Stück Kohle verglichen, die in einem Windhauch noch einmal aufleuchtet. Dies gilt auch für den Tod des Fürsten und für eine - im Roman trotz aller Ironie gewiss auch verklärte - Lebensform. Es gilt aber auch für den Lebensverlauf des spät berufenen und zeitig verstorbenen Autors.

Buchtipp:

Der Gattopardo.

Roman. Von Giuseppe Tomasi di Lampedusa. Hrsg. und mit einem Nachwort von Gioacchino Lanza Tomasi. Aus dem Italienischen von Giò Waeckerlin Induni. München, Zürich 2007 (= Serie Piper 4889), € 10,30

Der Autor ist Professor für Germanistik an der Universität Salzburg.

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