Geheimer Dialog der Schicksale

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Agnes Desarthe, Doron Rabinovici und das Gleichnis von den sauren Trauben der Väter und den stumpfen Zähnen der Kinder.

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Agnes Desarthe, Doron Rabinovici und das Gleichnis von den sauren Trauben der Väter und den stumpfen Zähnen der Kinder.

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Romane können miteinander einen Dialog führen, obwohl die Autoren einander nicht kennen. Zwei solche untergründig verbundene Romane sind "Geheimnis ohne Belang" von Agnes Desarthe und "Suche nach M." des in Wien lebenden Doron Rabinovici. Die Autoren sind etwa gleich alt (geboren 1966 in Paris und 1961 in Tel Aviv), beide Romane sind größere Erstlingswerke, zeitgleich geschrieben, zeitgleich im Nachkriegsmilieu von Paris beziehungsweise Wien angesiedelt, die Hauptfiguren sind, wie die Autoren, osteuropäisch-jüdischer Herkunft. Zwar ist auf den Vorderbühnen ganz Verschiedenes zu sehen, im Hintergrund geht es aber um den Jeremia-Spruch "Die Väter haben saure Trauben gegessen, den Kindern werden davon die Zähne stumpf", um Schuld und Unheil also, wie sie sich akausal und unverfügbar fortpflanzen.

Desarthe transponiert das Leichtbaugerüst des Arztromans ins akademische Milieu eines Linguistik-Instituts. Hierarchisch wohlsortiert treten auf: Zwei "Profs" als Autoritäten, mit Frau beziehungsweise Freundin, dazu Student und Sekretärin. In ein paar kurzen Wintertagen bündeln sich die Lebenslinien dieser sechs Personen, reißen ab durch einen Tod, verknüpfen sich durch eine Liebe, laufen beim dritten Paar ins Ungewisse aus. Zarte Geschichten sind eingeflochten, darunter eine besonders zärtliche vom Verlornen Sohn. Jedes Leben mit seinen natürlichen Geheimnissen: Bindungen an dominante Mütter, davongelaufne Väter, skurrile Großväter. Tausend kleine Verschuldungen wirken vom Rand her herein, sind biographisch zwar durchaus "von Belang", ballen sich aber nicht zu großer Schuld zusammen. Die Macht des Schicksals ist eine kleinräumige, fast gutmütige Kraft, beibt jedenfalls Familiensache.

Rabinovici webt seinen Schicksalsteppich weiter ausholend. In zwölf dachziegelartig überlagerten Geschichten profilieren sich aus ihren Kindheiten heraus zwei Extremfiguren. Dani, der eine, hat eine seltsame Selbstbezichtigungsmanie, nimmt jede erreichbare fremde Schuld auf sich. Bubenstreiche, später ganze Mordserien, immer: "Ich war's, ich bin's gewesen, ich bin schuld". Arieh, sein Schulfreund, entwickelt komplementär dazu ein Spürtalent, kann sich medial zielsicher auf die Fährte eines Täters setzen. Nach schmerzreichen Entwicklungsjahren wird Dani öffentlich, geistert in einem halb realen, halb surrealen Spurt als vermummtes Schuldphantom durch die Stadt, bis Arieh ihn schließlich telepathisch ortet. In makabrer Symmetrie professionalisieren sich die beiden: Dani wird Lügendetektor bei deutschen Justizbehörden, Arieh Agent im israelischen Geheimdienst. Scheinbar unabhängig voneinander sind sie wie Schuld und Sühne aufeinander angelegt. Schuld ist Grundmuster dieser Lebensläufe, Schicksal wirkt unheimlich weitreichend, fast tückisch, und immer auch historisch.

Zwei Inszenierungen also des Stücks von den Sauren Trauben. Die Französin setzt dabei das Jüdische nur episodisch ein: Sabbatstimmungen, der gute Rabbi, Kurioses im Alltag der Orthodoxen, Erinnerungen an die Heimat Krakau wie an ferne Prähistorie; es bleibt Kolorit. Nur an zwei kurzen Stellen blitzt das Ungeheuerliche durch: Der eine Professor erinnert sich, wie er als kleiner Junge an der Rampe von seiner Mutter getrennt wurde. Darauf bezugnehmend witzelt ihm der andere zynisch zu: "Ich habe nicht das Glück gehabt, meine Mutter in einem deutschen Ofen zu verlieren." Das Entsetzen darüber wird aber sogleich durch eine Slapstickszene überspielt. Schuld wird nicht explizit thematisiert, Verhängnis bleibt individuell verhängt. Die französische Kritik feiert denn auch bei Desarthe das Schillernde des Bestsellers a la Francoise Sagan, nimmt aber vom dunklen Hintergrund nicht weiter Notiz.

Ganz anders Rabinovici. Schon auf der ersten Seite klingt es dunkel an: Ein Wiener Cafe (Prückel) mit Blick auf "das Monument eines Antisemiten von Weltrang" (Lueger). Alle Figuren, auch die Enkel, tragen ihre unsichtbaren "blauen Nummern" auf der Haut. Das Ungeheure ist hinter der spannenden Detektivgeschichte ständig präsent: im traumatischen Schweigen innerhalb der Familien, im zwanghaften Identitätswechsel auch noch bei den Söhnen, dann umgeschlagen in neue Verschuldung als "Logik der Gewalt" im Staat Israel, in dessen "Mordmaschinerie" Arieh arbeitet. Das Gegenstück dazu in der Täterlinie, bei den hiesigen Behörden, die Anträge auf Anerkennung als Opfer auch heute noch als "Schachern mit Vergangenheit" abtun, bei den notorischen Verleugnern, die "von sechs Millionen auf eine, ja null herunterhandeln wollen", oder bei den Enkeln der Ariseure in ihren arisierten Wohnungen. Wo Gutwillige beider Seiten sich zu Gesprächen treffen, ist es ein "Rendez-vous auf dem Minenfeld". Schuld, das vermummte Gespenst, ist ein Wiedergänger, dessen Inkarnationen sich nicht an Familien- oder Gruppengrenzen halten. Die stumpfen Zähne beißen sich auch an Palästinensern oder Türken ab, sie sind endemisch, sind eine Anfälligkeit von homo sapiens. Rabinovici bringt die uralte biblische Erkenntnis besonders verständnisstiftend vor und nährt die gleich uralte Hoffnung, daß die akausale Kette zwischen den sauren Trauben und den stumpfen Zähnen doch einmal enden könne, gegen allen Augenschein, gerade weil sie keiner inneren Logik unterliegt. Zwei Romane, gut zum ergänzenden Zusammenlesen.

EIN GEHEIMNIS OHNE BELANG Roman von Agnes Desarthe Übersetzung: Christiane Seiler Fest Verlag, Berlin 1997 218 Seiten, geb., öS 263 SUCHE NACH M.

Roman von Doron Rabinovici Suhrkamp Verlag, Frankfurt 1997 270 Seiten, geb., öS 252

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