Geheimnisvoller Steffl

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Ein Eldorado für Archäologen ist der Wiener Stephansdom. Die Funde, die nun ausgegraben wurden, schreiben die frühe Wiener Stadtgeschichte neu.

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Ein Eldorado für Archäologen ist der Wiener Stephansdom. Die Funde, die nun ausgegraben wurden, schreiben die frühe Wiener Stadtgeschichte neu.

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Spachteln und Arbeitshandschuhe auf den Altären, Zementkübel am Boden, Kabel um Stellwandgerüste: seit etwas über einem Jahr ist der Stephansdom nicht nur Baustelle, sondern auch archäologische Grabungsstätte. 2,10 Meter tief ist die momentane Grube im Südschiff, die Grabungstechniker Johann Offenberger mit vier Mitarbeitern erforscht.

Archäologische Grabungen sind Millimeterarbeit - und die Erde unter dem Dompflaster birgt Schätze. Steinplatten aus der Nachkriegszeit, eine romanische Mauer, gotische Fußböden, Reste von Gräbern, Skelette: schichtenweise gräbt sich das Team der Abteilung für Bodendenkmale im Bundesdenkmalamt in die Tiefe. Die Fundstücke, die man dem Boden abgerungen hat, können sich sehen lassen: Vier spätrömische Steinplattengräber wurden im Laufe der Arbeiten geborgen. Etwa 460 Gräber wurden entdeckt, die Aufschlüsse über Bestattungsriten vom Mittelalter bis in die Neuzeit geben. Außerdem ist man auf Fundamente eines turmartigen Wehrbaues aus dem 10. oder 11. Jahrhundert und auf Reste eines Friedhofes gestoßen. Sie weisen darauf hin, dass bereits im 9. Jahrhundert Menschen auf dem Areal des Domes bestattet worden waren, was nach mittelalterlicher Tradition auf eine Kirche schließen lässt.

In der Nachkriegszeit hatten Archäologen zum ersten Mal Zugang zum Untergrund der ehrwürdigen Kathedrale: Damals hatte ein fahrlässiger Student den Großteil der Grabungsunterlagen in der Straßenbahn vergessen. Mit dem Einbau einer neuen Heizung, die von unterirdischen Heizstationen aus mit Fernwärme und Warmluftgebläse betrieben wird, bekam nun Grabungsleiter Johann Offenberger mit seinem Team Gelegenheit, das Erdreich unter der Kirche zu untersuchen. "Wenn da ein Bagger die Bodenfunde zerstört, ist das, wie wenn man Seiten aus einem Buch herausreißt" Damit der Gottesdienstbetrieb während der Grabungen weitergehen konnte, mussten die Archäologen anders vorgehen, als sie es gewohnt sind. "Es ist eine sehr unsystematische Grabung. Wir dürfen nur dort in den Boden, wo Heizungsaggregate hinkommen. Die Zusammenschau der Befunde ist daher sehr schwierig", bedauert Offenberger. Seit den Grabungen 1945-48 wünscht sich die Wissenschaft, größere Zusammenhänge um das Baugeschehen im Dom zu klären. "Wir haben jetzt wesentliche Fragen beantworten können, aber jede Antwort wirft neue Fragen auf."

Archäologische Logik Die Bergung der Funde ist nur der Anfang einer langen Kette an Analysen, die zur endgültigen Auswertung führen. "Uns interessiert nicht mehr in erster Linie der Fund an sich, sondern der Befund: also die im Boden erhaltene Geschichte," erklärt Offenberger den Wandel der Archäologie, die in ihren Anfängen im 19. Jahrhundert vor allem an schönen, intakten Fundstücken interessiert war. Pionier des neuen Denkens war Professor Schucharth, der durch Beobachtung eines Landvermessers als erster draufkam, Erdbefunde zu dokumentieren. Verfärbungen im Erdreich zeigten an, wo Holzbauten waren. Für Offenberger ein Quantensprung der Archäologie: "Vor dieser Entdeckung gab es keine Möglichkeit, Holzbauten nachzuweisen. Heute lässt sich alles belegen." Im Gegensatz zur Antike gab es vor allem in der mitteleuropäischen Frühgeschichte viele Holzbauten, die den Archäologen früher verborgen geblieben waren. Bei den spätantiken Gräbern aus dem 4. Jahrhundert und den Grabfunden aus dem 9. Jahrhundert wurde mittels Radiokarbonmethode das genaue Alter festgestellt. Jeder Organismus nimmt mit der Luft C14 auf, die Zerfallszeit dieses Stoffes ist messbar. Eine Radiokarbonmessung dauert etwa ein Jahr und funktioniert ähnlich wie ein Geigerzähler.

Bei Keramik, Schwertern, Metallfunden oder Grabbeigaben tut man sich leichter: man kann sie aufgrund ihres typologischen Aussehens datieren. Die Funde in St. Stephan haben diesbezüglich neue Erkenntnisse zu Begräbnisriten der Barockzeit ergeben: so fand man Skelette, die mit Totenkronen geschmückt waren. "Der Schädel hatte einen Kranz am Kopf, mit kleinen Bronzeblumen", ist Angelika Geischläger, Mitarbeiterin im Grabungsteam, begeistert. Die Bestattungsdichte unter dem Dom ist ungewöhnlich hoch: Alle 20 cm werden zwischen 35 und 45 Skelette freigelegt. Ein Anthropologe wird das Skelettmaterial genauer untersuchen und Geschlecht, Sterbealter sowie soziale Stellung der Toten bestimmen. Dies ist für die Frühgeschichte der Kirche wesentlich: weil nur Bessergestellte innerhalb der Kirche bestattet wurden, wird man sagen können, ab wann und wo ein Friedhof um den Dom angelegt wurde. Weiters sind Kunsthistoriker, Zoologen, Bauforscher und Paläobotaniker, die Samen und Holzreste untersuchen. Ein Geologe wird das Steinmaterial sichten.

Reiche Ausbeute Bis auf das Weihedatum 1147 und den Mauterner Tauschvertrag gibt es kaum urkundliche Quellen zum Stephansdom und zum frühen Wien. Nachdem nun die Umfassungsmauer aus der späten Römerzeit im 4. Jahrhundert und Mauern einer romanischen Basilika freigelegt wurden, kommt eine komplexe Baugeschichte zutage. Die Gräber aus dem 9. Jahrhundert lassen eine erste Kapelle vor Ort vermuten. Das Turmfundament aus dem 10. Jahrhundert könnte eine Wehranlage oder eine Kirchenburg gewesen sein. "Mit den frühmittelalterlichen Steinkistengräbern ist jedenfalls sicher, dass vor Ort viel länger gesiedelt wurde als bisher angenommen", freut sich Offenberger über die reiche Ausbeute der Grabungen. Bis Ende April darf er im Dom noch forschen, im Bereich der Sakristei werden die Archäologen arbeiten.

Nach ihren Funden ist die Geschichte des Stephansdom neu zu schreiben: Historiker waren davon ausgegangen, dass der Dom 1137 durch den Mauterner Tauschvertrag vom Passauer Bischof errichtet und 1147 geweiht wurde. "Die Lehrmeinung, dass nach dem Zusammenbruch der römischen Verwaltung im 5. Jahrhundert in Wien nichts gewesen wäre, hält nicht mehr", ist Dombaumeister Wolfgang Zehetner sicher. Die Funde weisen darauf hin, dass es sich schon um frühchristliche, nicht mehr um römische Gräber handelt. Dafür spricht auch das Fehlen von Grabbeigaben, was bei Christen nicht üblich war. "Rosenkränze haben wir keine gefunden, auch christliche Zeichen sind keine drauf", bedauert der Dombaumeister. Das freigelegte Fundament des Wehrturms aus dem 10. Jahrhundert gibt zusätzlich Rätsel auf: Es könnte ein Wohnturm der Passauer Bischöfe gewesen sein.

"Schon bei der Restaurierung des Riesentores 1997 hat sich abgezeichnet, dass hier Fundamente eines heidnischen Turmes liegen könnten, von dem man bisher nichts wusste", weiß Zehetner um die Reste, die unter dem Fußboden des Domes schlummern. Auf die Erkenntnisse, die andere Wissenschaften aus den Funden herauslesen werden, darf man gespannt sein. Architekt Zehetner verweist auf ein prominentes Beispiel: "Obwohl der Archäologe Winckelmann bunte Stücke ausgegraben hat, zitierte er Goethe und hielt am Bild des weißen Marmors in der Antike fest!"

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