Gemeinsame Schule als BEHINDERUNG?

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Die Umwandlung der Wiener Sonderschule "Am Himmel" in eine inklusive Schule hat zu einem Eklat geführt. Über Ängste von Eltern und Lehrern.

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Die Umwandlung der Wiener Sonderschule "Am Himmel" in eine inklusive Schule hat zu einem Eklat geführt. Über Ängste von Eltern und Lehrern.

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Am Himmel ist die Hölle los: Seit bekannt wurde, dass die Sonderschule der Wiener Caritas für schwerstbehinderte Kinder auf dem Cobenzl in eine Inklusionsschule - für Kinder mit und ohne Handicap - umgewandelt werden soll, regt sich Widerstand (vgl. FURCHE Nr. 30/2014). Nun hat knapp die Hälfte der Eltern ihre Kinder ab-und in einer anderen privaten Sonderschule angemeldet. Auch sieben Lehrkräfte gehen mit. Die verbleibenden 18 Kinder werden laut Caritas ab Herbst teilweise gemeinsam mit den 23 Kindern der neu integrierten Montessori-Schule "Kirschbaumhaus" unterrichtet. Wie ist die Skepsis von Eltern und Lehrern behinderter Kinder gegenüber schulischer Inklusion zu erklären? Und wie weit soll Inklusion überhaupt gehen? DIE FURCHE hat darüber mit Gottfried Biewer, Professor für Sonder- und Heilpädagogik an der Uni Wien, gesprochen.

DIE FURCHE: Herr Professor Biewer, was sagen Sie zu den Vorgängen "Am Himmel"?

Gottfried Biewer: Ich kenne sie nur aus den Medien und kann deshalb nicht beurteilen, was hier schiefgelaufen ist. Grundsätzlich begrüße ich es, wenn sich bisherige Sonderschulen in Richtung Inklusion aufmachen und auch Schüler ohne Behinderung aufnehmen, um über eine gemeinsame Beschulung Kontakt herzustellen. Wie bei allen großen Veränderungen in Institutionen gibt es aber häufig Widerstand: Wenn Lehrkräfte überzeugt sind, dass sie eine gute Arbeit leisten, und Eltern der Meinung sind, dass ihre Kinder gut aufgehoben sind, sorgen Änderungen natürlich für Ängste.

DIE FURCHE: Bei manchen Eltern gründet sich die Angst auf konkreten schlechten Erfahrungen: Eine Mutter erzählt etwa, dass ihr autistischer Sohn früher in einer Integrationsklasse immer nur Steine sortiert habe ...

Biewer: Ich möchte gar nicht in Abrede stellen, dass manche Dinge in Integrationsklassen nicht gut laufen. Aber auch in Sonderschulen ist nicht alles eitel Wonne, nur ist das nicht so gut von außen zu sehen, weil dieser Bereich ja geschützt ist. Ich habe selbst 17 Jahre lang in Bayern als Sonderschullehrer gearbeitet - mit sehr kleinen Klassen, relativ viel Personal und konzentrierten Problemlagen: Die Kinder haben hier etwa gar nicht die Chance gehabt, festzustellen, dass sie sich auch anders verhalten könnten, ihnen haben die Rückmeldungen der Klassenkameraden gefehlt. Sonderschulen einfach zu schließen, halte ich trotzdem für falsch. Das Ziel muss sein, das jetzige System der Integrationsklassen weiterzuentwickeln und Regelschulstrukturen zu schaffen, die Kinder mit Behinderungen willkommen heißen und ihnen zugleich die nötige Unterstützung geben. In acht bis zehn Jahren sollen Sonderschulen dann überflüssig werden. Schließlich hat sich Österreich durch die Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention zur Inklusion auf allen Ebenen verpflichtet.

DIE FURCHE: Kritiker wie der Berliner Erziehungswissenschafter Bernd Ahrbeck warnen vor bedingungsloser Inklusion auf Kosten der betroffenen Kinder. Kann es nicht sein, dass die gemeinsame Beschulung für manche Kinder einfach nicht passt?

Biewer: Das würde ich zurückweisen. Es gibt allenfalls Umgebungen, die nicht inklusiv genug sind. Wobei Inklusion nicht heißen muss, dass ein Kind mit hohem Pflege- und Unterstützungsbedarf während der gesamten Zeit mit allen anderen Kindern im Klassenzimmer sitzt. Es kann durchaus sein, dass es Phasen gibt, wo im selben Schulgebäude ein "Ressource-Room" verwendet wird, in dem dieses Kind bestimmte Selbstversorgungshandlungen - sei es Schuhebinden oder Essen - lernt. Ich gehe aber davon aus, dass Strukturen in der Regelschule etablierbar sind, die allen Kindern gerecht werden.

DIE FURCHE: Momentan gibt es nicht einmal genügend Schulpsychologen und anderes Unterstützungspersonal ...

Biewer: Das ist richtig. Mit den Planstellen, die derzeit für die Sonderschullehrer eingesetzt werden, könnte man das System aber anders und besser organisieren. Meiner Meinung nach gehört an jede Schule ein "Special Needs Coordinator", wie es ihn etwa in England gibt. Diese Person schaut nach, ob es Kinder gibt, auf die nicht angemessen eingegangen wird, und entwirft für sie dann individuelle Entwicklungspläne: dazu gehören Kinder mit Behinderungen, aber auch solche mit schweren chronischen Erkrankungen oder solche, die gemobbt werden.

DIE FURCHE: Apropos: Es gibt auch das Phänomen, dass Kinder mit Behinderungen in integrativen Settings soziale Randsituationen einnehmen und sich deshalb unwohler fühlen als in Sonderschulen.

Biewer: Zum Wohlbefinden gibt es uneinheitliche Befunde. Es gibt Studien, wonach Kinder in inklusiven Settings mehr lernen als in Sonderschulen und sich auch wohlfühlen. Andere Studien belegen tatsächlich, dass speziell ab Eintritt in die Pubertät Kinder, die in jüngeren Jahren gut in die Klassen integriert waren, in stärkerem Maße zurückgewiesen werden und eine schlechtere Stellung in den Peergruppen haben. Wir entwickeln gerade ein internationales Forschungsprojekt, wo es genau um diese zunehmende Benachteiligung und mögliche Lösungen geht. Neben dem aktuellen Wohlbefinden sind aber auch die langfristigen Folgen wichtig: In einer großen Schweizer Langzeit-Studie konnte man feststellen, dass sich die Kinder zwar in Sonderschulen etwas wohler fühlen, aber jene aus den integrativen Bereichen später im Leben und im Beruf besser zurecht kommen. Der Schonraum Sonderschule wirkt sich also auf die Gesamtbiographie nicht positiv aus und mündet oft in den Schonraum Werkstätte: Es gibt Leute, die sprechen hier von einem "gut gepolsterten Gefängnis" ...

DIE FURCHE: Manche Eltern könnten meinen, dass ihr Kind hier trotzdem besser aufgehoben ist als in der Privatwirtschaft.

Biewer: Ich bestreite überhaupt nicht, dass Eltern das Beste für ihr Kind wollen, aber man muss auch analysieren, wozu das führt. Es geht darum, auch Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Und diese Perspektive sehe ich bei Eltern häufig nicht.

DIE FURCHE: Nicht nur Eltern, auch Lehrer sind oft inklusionskritisch: Manche Sonderpädagogen warnen, dass mit dem Auslaufen ihrer Ausbildung an den Pädagogischen Hochschulen ab Herbst die Expertise im Umgang mit Behinderung schwinden könnte ...

Biewer: Das Gegenteil ist der Fall! Zum einen gibt es im Rahmen der neuen Lehrerausbildung an der Uni Wien das umfangreiche Modul "Inklusive Schule und Vielfalt", das alle Lehramtsstudierenden durchlaufen müssen. Wobei wir hier von einem weiten Inklusionsbegriff ausgehen, zu dem auch Faktoren wie Migrationshintergrund und Armut gehören. Zum anderen planen wir ab 2017/18 auch ein Bachelor-Studium mit dem Schwerpunktfach "Inklusive Pädagogik", das angehende Sekundarstufenlehrer als Zweitfach wählen können. Diese Leute sollen später in der Lage sein, Lehrer zu beraten, Notsituationen an den Schulen zu bewältigen, aber auch gebärdensprachkompetent mit gehörlosen Schülern zu arbeiten. Es kommt also zu einem Qualifikationssprung!

DIE FURCHE: Noch empfinden viele Lehrer Vielfalt eher als bedrohlich - erst recht, wenn sie von Hochbegabten bis zu Schwerstbehinderten reicht. Was sagen Sie jenen, die behaupten, dass man nur in möglichst homogenen Klassen gut unterrichten kann?

Biewer: Ich würde zuerst einmal die Aussage wagen, dass es auch in einem differenzierten Schulsystem keine homogenen Klassen gibt. Es gibt nur eine Selektion mit zehn Jahren, die viele soziale und auch bildungsideologische Faktoren aufweist, weil Statusinteressen von Eltern im Hintergrund stehen. Ich selbst habe jedenfalls in der Praxis erlebt, dass Kinder nicht weniger lernen, wenn man ihre Individualität respektiert, sondern dass davon alle profitieren: Hochbegabte ebenso wie Kinder mit intellektueller Beeinträchtigung. Das ist auch das Ziel von Inklusion. Aber dazu brauchen die Lehrer Unterstützung durch Spezialisten, damit sie nicht in der Klasse untergehen und mit Burnout ausscheiden.

DIE FURCHE: Es braucht also mehr Ressourcen ...

Biewer: Ob das inklusive System insgesamt mehr Ressourcen braucht als die gegenwärtige Dreigleisigkeit mit Sonderschulklassen, Integrationsklassen und Regelschulklassen, weiß ich nicht. Ich würde mich allerdings auch davor hüten, Inklusion als Spar-Möglichkeit zu sehen. Das wäre die geeignetste Methode, um das ganze Anliegen an die Wand zu fahren. Die Verantwortlichen sollten vielmehr klar sagen: Wir wollen diesen Systemwechsel - aber nicht unter der Maxime des Sparens. Das würde den Eltern und Lehrern schon einiges an Verunsicherung nehmen.

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