Gemeinschaft der Gestrandeten

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Das Wiener Volkstheater zeigt Gerhart Hauptmanns Jahrhundertwendestück #Die Ratten# in einer Bearbeitung von Dimitré Dinev, der versucht hat, die Tragödie ins Heute zu holen.

Es ist eine sonderbare Sehnsucht nach dem Weitergeben des Lebens. Ein Kind zu haben, ist aber nicht nur das biologische Interesse der Frau, wie Gerhart Hauptmann betont (der die Erfüllung der Frau nur in der Mutterschaft sieht), sondern auch ein gesellschaftlicher Wert. Eine Frau, die nicht Mutter ist, hat sich dem Reproduktionsgesetz entzogen und wird nicht als #richtige# Frau anerkannt. Der Druck, der auf kinderlose Frauen ausgeübt wird, ist nicht nur Merkmal einer Gesellschaft der Jahrhundertwende, als Hauptmann sein Stück #Die Ratten# verfasst hat. Die Kinderlosigkeit seiner Hauptfigur, der Henriette John, wird bei ihm zum Ausgangspunkt der Tragödie, die das Volkstheater in der Bearbeitung von Dimitré Dinev ins Heute geholt hat.

Dinev hat jene soziale Stufenleiter fokussiert, die rutschiger geworden ist, denn einen erwartbaren Lebensverlauf lassen heutige Karriereplanungen nicht mehr zu # wie auch Dinevs eigene Biografie deutlich macht: Vom Flüchtlingsheim Traiskirchen hat er es zum renommierten Autor gebracht # zu Recht, doch wer hätte das gedacht?

Dezent #eingewienert#

Bei Dinev sind Hauptmanns Ratten aus dem Jahr 1911 zertretene Würmer, wütende, einsame Getriebene, die nicht weiter wissen und mit dem traurigen Blick der Realität konfrontiert sind. Dezent #wienert# er den Text ein, Henriettes Ehemann Paul (Dominik Warta) ist bald alles #Blunz#n#, das Dienstmädchen Pauline (Andrea Wenzl) erfüllt das Klischee der polnischen Zuwanderin, der die richtigen Worte fehlen und die daher umso deutlicher gestikuliert, und der geheimnisvolle Hausmeister Quaquaro (Thomas Bauer) gibt Rätsel auf.

Regisseur Ingo Berk hat auf der Bühne des Volkstheaters einen Laufsteg ungeordneter Begegnungen etabliert. Vor einem Container aus Holzbrettern (Bühne: Damian Hitz), dem Motten-Ratten-Flohparadies-Dachboden des ehemaligen Theaterdirektors Hassenreuter (Erich Schleyer), treten die Figuren auf und ab und fädeln sich wie Perlen einer sonderbaren Kette (an Aktion und Konsequenz daraus) aneinander. Der Dachboden wird zum Käfig der Unbeholfenen # und erst im zweiten Teil gelingt Berk so etwas wie ein Personen-Arrangement. Dazwischen sucht er vergeblich nach einem Spielrhythmus, eine Bemühung, die der meditative Sound (Patrik Zeller) kontraproduktiv unterwandert. Die Atmosphäre geht immer mehr ins Traumartige, wie auch die Handlung, die sich schließlich tragisch verdichtet.

Erich Schleyer verkörpert polternd, aber überzeugend in seiner Selbstherrlichkeit den Theaterdirektor und Schmierenkomödianten Hassenreuter, der nur die eigene Karriere im Blick hat. Seine Frau betrügt er skrupellos mit der Schauspielerin Alice Rütterbusch (Susa Meyer), sein Maskenfundus am Dachboden ist nur Zwischenstation. Straßburg ist sein Ziel: Der Ort, an dem er als Direktor wirkte, wird zum Zentrum der künstlerischen Elite ausgerufen.

Dem Schicksal nicht entkommen

Sein Pendant ist der junge Erich Spitta, ein kleiner, kritischer, kurioser Kauz, ehemaliger Kandidat der Theologie, der zum Theater gehen will. Matthias Mamedof gelingt ein engagierter Schauspielschüler, dessen Kunst- und Lebensverständnis einen modernen, humanitären Weg weist. Neben Claudia Sabitzer als getriebener, altersloser Henriette John ist da noch ihr Bruder Bruno (Simon Mantei), der dem Kreislauf der Biografie und den Zuschreibungen als Kleinkrimineller nicht entkommt und am Ende mit dem Totschlag an der jungen Polin die endgültige Tragödie manifestiert.

Dinev zeichnet hier # wie schon in seinem Stück #Eine heikle Sache, die Seele#, ebenfalls am Volkstheater uraufgeführt # eine Hausgemeinschaft an Gestrandeten, die vergeblich versuchen, ihrem Schicksal zu entkommen. In dem reichen Personal bleiben allerdings viele Figuren blass und undefiniert, wie etwa Hassenreuters Tochter Walburga (Nanette Waidmann) oder Henriettes junge Verbündete Selma (Andrea Bröderbauer), während erfahrenen Schauspielern # wie Dominik Warta, der den braven, aber kleinbürgerlichen Maurerpolier Paul John spielt # klare Rollenporträts gelingen.

Was die Regie betrifft, wird man das Gefühl nicht los, dass Ingo Berk von Hauptmanns/Dinevs Milieustudie überfordert war.

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