Genschers Vermächtnis

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Wer denn meine politischen Vorbilder seien, bin ich dieser Tage wieder einmal vor Kameras gefragt worden. Eine Antwort darauf fällt mir nie leicht - gerne weiche ich in die ferne Vergangenheit aus. Unsere Mediengesellschaft tut sich ja schwer damit, noch lebende Positiv-Gestalten zu stützen und über längere Fristen auch bestehen zu lassen. Wer weiß schon, was über sie noch ans Licht kommt. Die Zeit großer Idole ist - gottseidank - ohnedies vorbei. Und manchmal erkenne auch ich erst angesichts einer Todesnachricht, welch geschichtsprägend positive Persönlichkeit da unter uns war.

Drei große Deutsche -Richard von Weizsäcker, Helmut Schmidt und nun auch Hans-Dietrich Genscher -sind zuletzt gestorben. Alle drei hätte ich längst in die Liste politischer Vorbilder aufnehmen können -und doch sind sie mir nicht eingefallen, als Vorbilder gefragt waren.

Bei Genscher, dem legendären deutschen Langzeit-Außenminister, dessen Lebenswerk die Bundesrepublik am 17. April mit einem Staatsakt ehren wird, ist so viel Vergessen fast unverzeihlich.

Dabei hat dieser große Stratege - der "Vorarbeiter" bei der Überwindung des Ost-West-Konflikts und bei der deutschen Einheit sowie unbeirrbare Prophet eines gemeinsamen Europas -auch in meinen persönlichen Erinnerungen ungewöhnlich viele Spuren hinterlassen: angefangen vom blutigen Olympia-Drama 1972 in München, bei dem er sich selbst als Geisel angeboten hatte, über Gespräche in Wien und Urlaubsbegegnungen im bayrischen Grenzland bis hin zu einer gemeinsamen Wahlkampf-Reise durch Deutschland.

Mit HDG unterwegs im Wahlkampf 1966

Unvergesslich vor allem diese lange gemeinsame Autofahrt von Bonn nach Lübeck im Bundestagswahlkampf 1966. Gegen den Rat seiner Ärzte hielt der rastlose Genscher an diesem Tag auf nasskalten Plätzen und in zugigen Bierhallen nicht weniger als acht Reden - und erlitt am Zielort prompt eine seiner zahlreichen Herzattacken.

"Schon wieder ein Kollaps", sagte sein Chauffeur lakonisch. "Stimmversagen Genschers" zitierten die Zeitungen am nächsten Tag brav eine Aussendung seiner Partei. Es war nicht das erste Mal, dass ich aus großer Nähe zwei "Wahrheiten" miterlebte, wenn es um die Gesundheit von Spitzenpolitikern ging.

Immerhin schaffte er es trotz früher Lungentuberkulose und mehrerer Herzinfarkte bis ins 90. Lebensjahr.

Unterwegs durch Deutschland, erzählte er mir damals von seinem Umgang mit der öffentlichen Meinung: Mehrmals pro Woche ließ er sich Meinungsumfragen über brisante politische Themen vorlegen -"aber nicht, um den Menschen politisch nach dem Mund zu reden, sondern um besser zu wissen, wo ich gegensteuern muss ".

Ein Satz, den ich seither allen politisch Verantwortlichen -auch und gerade in unserem Land -so gerne ans Herz legen würde. Nicht nur in der so turbulenten Flüchtlingspolitik, aber dort ganz besonders.

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