Gerhard Roth - © Foto: Hans Peter Schaefer

Gerhard Roth: Aufdecker, Archivar, Anatom

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Wie kann man diesen Schriftsteller fassen? Gar nicht, seine Werke sprengen alle Fassungen, nicht nur vom Umfang her. Denn Gerhard Roth stellt sich schreibend der Frage, wie man ausbrechen kann aus dem "Romangefängnis, dem Stilgefängnis, dem Denkgefängnis“.

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Wie kann man diesen Schriftsteller fassen? Gar nicht, seine Werke sprengen alle Fassungen, nicht nur vom Umfang her. Denn Gerhard Roth stellt sich schreibend der Frage, wie man ausbrechen kann aus dem "Romangefängnis, dem Stilgefängnis, dem Denkgefängnis“.

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Am 24. Juni 1942 in Graz geboren, wuchs Roth im "Schweigens-Reich“ auf, in dem Vergangenheit verdrängt und vergessen werden sollte. Roth studierte Medizin, brach sein Studium ab, lebte mit seiner Familie in Graz, arbeitete bis 1977 im Rechenzentrum und zog danach zum Schreiben aufs steirische Land. Dort und in der Großstadt Wien begann er intensivste Erkundigungen.

Aus dem Bedürfnis, eine Geschichte Österreichs zu schreiben, erwuchs - den chronologischen Anfang machte 1980 der Roman "Der Stille Ozean“ - ein Romanzyklus, der längst zum Kanon der österreichischen Literatur gehört: "Die Archive des Schweigens“. Was Roth damit öffnete, war ein Bienenstock. Nicht nur die Archive eines Landes, sondern auch die der eigenen Familie, des eigenen Ich waren betroffen - und Roth sammelte wie ein Archivar, was er fand, trug wie ein Archäologe Schicht um Schicht ab und las die Zeichen, sezierte wie ein Anatom mikroskopisch genau nicht nur Erinnerungen, sondern auch die Sprache, förderte wie ein Aufdecker Verbrechen zutage. Alles Vergangene, wenn auch verdrängt und vergessen, bleibt präsent: Dafür interessierte sich Roth, und daher bedeutete eine Geschichte Österreichs zu schreiben auch den Träumen nachzugehen.

Wiederkehrende Motive, Themen und Figuren verbinden die einzelnen Romane miteinander und seine beiden großen Romanzyklen. Mit Franz Lindner brachte Roth eine Figur ein, die aufgrund ihrer Schizophrenie in zwei Welten lebt, die beide wirklich sind. Roth, der sich intensiv mit den Gugginger Künstlern beschäftigte, lässt in seinen Romanen gerade die "Verrückten“ den Schwindel der Gesellschaft aufdecken. Nicht zuletzt an Figuren und Orten kann man Gerhard Roths Nähe zu Michel Foucault erkennen, der in "Wahnsinn und Gesellschaft“ darstellte, wie die Gesellschaft wegsperrt, was sie stört. Auch eine Stadt hat Orte, wo man ihr Träumen, ihr Unbewusstes erspüren und ihr Weggesperrtes finden kann, das zeigte Roth unter anderem in seiner "Reise in das Innere von Wien“ (1991).

Roth bezeichnete einmal den Bien als Schreibmodell - die einzelnen Geschichten (Bienen) als Teil eines Gesamtorganismus, geordnet nach einem Prinzip aus der Psychoanalyse: Die Teilchen führen immer weiter in die Vergangenheit. Das ist wie einen Staudamm öffnen, so Roth. Das klingt nicht so, als ob ein solches Schreiben je zum Abschluss käme - und dem siebenbändigen Zyklus "Die Archive des Schweigens“ schloss sich dann der Zyklus "Orkus“ an. Mit dem Roman "Orkus“ ist dieser Zyklus 2011 zu einem vorläufigen Abschluss gekommen. Wie in einem Konzentrat begegnen sich darin einzelne Handlungsstränge und finden wir den Schriftsteller inmitten seiner Figuren und Reflexionen. Das klingt nach Lektüre für Wissenschafter, doch Gerhard Roths Romanen ist das Aufdeckerische als detektivisches Element eingeschrieben, was ihnen Spannung verleiht, die Lust auf Suche macht.

Seine "verrückte“ Figur Lindner lässt Roth im Roman "Das Labyrinth“ eine wunderbare Definition des Schriftstellers schreiben: Er ist ein Spion, "der im Auftrag der Normalität in das Land des Wahnsinns reiste“. Gerhard Roth aber kennt keinen Auftrag der Normalität. Denn sie ist ihm mehr als fraglich.

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