Geschichte als Second-Hand-Shop

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Das Jahr beginnt mit bedenklichen Aussichten: Kultur und Politik werden uns mit Jubiläen überschwemmen. Nicht nur Kriegsende und Staatsvertrag sind zu bedenken. Vor 50 Jahren wurden Burgtheater und Staatsoper wiedereröffnet; vor 100 Jahren bekam Berta von Suttner den Friedensnobelpreis, kam Elias Canetti auf die Welt. Noch trächtiger der Rückblick um 200 Jahre: 1805 starb Friedrich Schiller, wurden Adalbert Stifter und H. C. Andersen geboren. Und gar 400 Jahre ist es her, dass Cervantes' "Don Quijote" erschienen ist.

Soviel Rückblick ist eine Selbstbestätigung österreichischer und europäischer Weltgeltung - Streicheleinheiten, die man sich selbst verpasst. Keines der Ereignisse, an die zu erinnern man sich vorgenommen hat, hätte sich ins Gedächtnis eingeprägt, wäre es nicht mit starken Emotionen verbunden gewesen. Und was geschieht mit den Erregungen und Skandalen, mit den Triumphen und dem Jubel von damals? Schön geflickt und frisch gebügelt wird alles in der Auslage des Second-Hand-Shops der Geschichte ausgestellt.

Im Museumsquartier geriet ich gestern in die unterste Etage der Ludwig-Stiftung. Dort wird der Wiener Aktionismus präsentiert. Die Grauslichkeiten von damals sind museumsreif geworden. Also braucht man sich um ihre Wirkungslosigkeit nicht sorgen. Wen regen Schillers "Räuber" heute noch auf? Andersens "Mädchen mit den Schwefelhölzchen" war eine soziale Provokation, Berta von Suttners Ruf "Die Waffen nieder" ist auf taube Ohren gestoßen.

Liegt alles, worauf wir stolz sind, in der Vergangenheit? Wird es nicht nach soviel Rückblick schwer fallen, die Gegenwart zu betrachten oder den Blick in die Zukunft zu richten? Wo sind die Triumphe von heute? Wo die Skandale aus erster Hand, die hier und jetzt zum Nachdenken zwingen? Hat jemand vielleicht die Absicht, von ihnen abzulenken?

Der Autor ist freier Publizist.

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