Geschichte einer Isolation mit Happy-End

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Ein Jugendbuch für Erwachsene, gegen die Ellbogengesellschaft und gegen den zu ihr passenden pädagogischen Zeitgeist.

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Ein Jugendbuch für Erwachsene, gegen die Ellbogengesellschaft und gegen den zu ihr passenden pädagogischen Zeitgeist.

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Der Roman "Anna in der Wand" von Patrice Kindl wird zwar als Jugendroman ausgeschildert, doch das greift zu kurz. Trotz der jugendlichen Sprache und Gedankengänge ist er meines Erachtens für Erwachsene geschrieben. Auch der Orginaltitel "The Woman in the Wall" - "Die Frau in der Wand" - bestätigt diese Vermutung.

Anna ist vierzehn und schüchtern. Nicht so schüchtern, daß sie nicht doch zaghaft ihre Geschichte erzählt. Besser gesagt: niederschreibt. Irgendwie möchte sie sich doch erklären und wehren gegen die vorschnellen Urteile, sie sei ein ver- oder gar gestörtes Mädchen, das nicht sprechen will, sich vor Menschen fürchtet und viel zu lange braucht, um das zu zeigen und auszudrücken, was es bewegt. Beim Sprechen geht ihr alles zu schnell. Während sie noch abwägt, was sich zwischen den Worten alles verbergen könnte, sollte sie längst antworten oder handeln. Verwundert merkt sie, daß weder ihre große hübsche Schwester noch die kleine, wehleidige ernsthafte Probleme mit ihrer Umwelt haben. Also zieht sie sich noch weiter zurück. Der Vater sei ihr ähnlich gewesen, hört sie, aber der ist irgendwo zwischen Büchern verschwunden. Und die Mutter, die liebt sie sehr, doch hat sie keine Zeit, neben dem schwierigen Familienernähren auch noch zu warten, bis Annas komplizierte Verstörung Kommunikation ermöglicht. Immer noch besser ein zurückgezogenes Kind als ein aufmüpfiges, denkt sie sich.

Anna liest und werkt. Mit praktischen Dingen, die sie näht, strickt oder repariert, drückt sie stillschweigend ihre Zuneigung aus, schickt sie Signale aus ihrer Isolation "zwischen den Wänden" des alten Hauses. Gelesenes beflügelt ihre Phantasie und manchmal schreibt sie ihre Gedanken und Gefühle nieder, denn zwischen Buchstaben und Worten findet sie sich leichter zurecht als unter Menschen. Immer häuslicher richtet sie sich in ihrer Zwischenwelt ein. Erst als die Familie von außen verändert wird, entdeckt man Annas Geheimnis und lernt ihre Qualitäten schätzen. So findet sie aus ihren "Wänden".

Die amerikanische Autorin Patrice Kindl wirft einen respektvollen Blick in die Seele eines heranwachsenden Mädchens, das mit seiner Umwelt nicht zurechtkommt und den Rückzug nach innen antritt, obwohl es so gerne nach außen gehen würde. Die Angst scheint ihr unüberwindbar und lange kommt ihr niemand zu Hilfe. Wie in jeder Familie sind alle zu beschäftigt mit Arbeit, Vergnügen und Selbstverwirklichung. Wer sich da nichts holt, der kriegt auch nichts, und wer nicht glänzt oder schreit, der wird einfach übersehen. Und wessen Fähigkeiten nicht auffallen, der hat praktisch keine.

Ein schönes Buch wider den Erziehungszeitgeist in unserer Ellbogengesellschaft. "Es sind nicht nur die Lauten stark" klingt die hoffnungsvolle Botschaft für jugendliche und alte Annas, die sich nicht mit dem heute üblichen digitalen Blick auf die Welt begnügen, sondern bei Menschen und alten Häusern dem Zauber der geheimnisvollen Dachböden hinter verborgenen Zwischenwänden nachspüren.

Anna in der Wand Roman von Patrice Kindl; aus dem Amerikanischen von Maria Rosken, Gabriel Verlag, Wien 1998, 173 Seiten, geb., öS 204,-/e 14,82

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