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100 Gulden Darlehen dem Kaiser

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AUF DER STRASSE und in dem Augenblick, da ich den Schritt verhalte, um mich angesichts der stämmigen Polizeibeamten vor dem Portal des Hauses zu vergewissern, nicht versehentlich vor dem Polizeipräsidium auf dem Parkring angelangt zu sein, flüstert eine männliche Stimme rechts von mir: „Wenn S' mir den Apparat da mitnehmen könnten — was Sie halt dafür kriegen...“ Ich erblickte eine schlottrige, nur mit Hemd und Hose bekleidete Gestalt, deren Füße in defekten Sandalen steckten. Auf die Frage, warum denn der Mann nicht selbst hinüber ins Dorotheum gehe, antwortete er: „Weil i mi schenier!“ Von diesem Zusammentreffen habe ich eine Viertelstunde drinnen im Hause Doro-theergasse 1,7 erzählt. Ob ich recht getan habe, das Ansuchen abzulehnen, und am Ende gar ein empfindliches Gemüt vergrämt hätte? Einer der Herren lächelte etwas, der andere schwieg ernst und wiegte den Kopf. Gewiß gäbe es noch verschämte, unvermutet in Not geratene Mensehen, die zwischen den Zähnen der Fürsorgemaschine durchfallen und nicht weitertransportiert werden; manche dieser Menschen scheuen den Weg ins Dorotheum. Schon der Polizist, der routinegemäß immer vor dem Tor steht, löst Unbehagen aus. Sie glauben sich schuldig, mehr als ihre Geldschuld ausdrückt. Aber daneben gibt es auch andere Charaktere, und derentwegen steht der Uniformierte nicht umsonst vor dem Tor.

WENN MAN EINEN NEUEN NAMEN bilden möchte, dann könnte man statt „Dorotheum“ auch „Monteum“ oder so ähnlich sagen. Mit „Montes“ hat man früher in Italien jene Anstalten bezeichnet, die seit dem 13. Jahrhundert zur Durchführung von öffentlichen Anleihen der Ansammlung von Geld dienten. Um das Zinsverbot zu umgehen, wurden die Gläubiger in Gesellschaften vereinigt, denen bestimmte Rechte verliehen und Einnahmsquellen zugewiesen wurden. Die Anteile an solchen Kapitalansammlungen, durch Umschreibungen in den Büchern der Gesellschaften übertragbar und unseren Aktien ähnlich, hießen Loca montium. Die Renten, welche solche Anteile gewährten, waren meist dauernde. Im Gegensatz zu den Montes profani hatten die Montes pietatis (italienisch: monte di pietä; französisch: monts de piete) den Zweck, mit Verzicht auf Gewinn die wucherische Ausbeutung einer Notlage zu verhindern. Die erste Anstalt solcher Art wurde in Perugia vom Franziskanermönch Barnaba im Jahre 1462 gegründet, kurz darnach folgte in Orvieto eine mit päpstlicher Genehmigung errichtete Anstalt, aber erst 1515 wurde durch Leo X. diesen Anstalten das Recht verliehen, für ihre Darlehen Vergütungen anzunehmen, um die Unkosten zu decken. Das Dorotheum in Wien würde 1707 gegründet. Bei der Eröffnung des Neubaues, 1901, hat Kaiser Franz Joseph eine goldene Uhr hingelegt und dafür ein „Darlehen“ von 100 Gulden erhalten. Er lobte die schnelle Abfertigung. „Kein Wunder“, sagte mein Begleiter während des Ganges durchs Haus. „Es war außer ihm niemand anwesend.“ *

EIN GANG DURCH DIE SÄLE und die Magazine des Dorotheums wirft viele Fragen auf. Zunächst gleich, im Zeitalter der Konjunktur und der Wirtschaftshochblüte, die Frage: Haben die Pfandleihanstalten heute noch eine Daseinsberechtigung? Die Tatsachen sagen nüchtern: Am Ende des ersten Quartals des Jahres 1960 verzeichnet das Dorotheum einen Betrag von 156 Millionen Schilling für aushaftende Darlehen. Fast eine. Million Posten lagern in stetem Wechsel dauernd in den weitläufigen Magazinen der 26 Anstalten mit ihrem Lagerraum von mehr als 100.000 Kubikmetern. Das Dorotheum gilt noch immer als das Kreditinstitut des kleinen Mannes. Der Beweis: mehr als 50 Prozent der gewährten Darlehen liegen unter 100 S. Es gibt also Menschen, denen ein Hundertschillingschein von wesentlicher Bedeutung ist. Die Darlehen beginnen bei zehn Schilling. Ich habe Gegenstände mit einem Darlehen von unter 100 S in den entsprechenden Magazinen auch bei flüchtigem Umsehen mehrfach gesehen. Wer aus dem glanzvollen Leben der Innenstadt mit den überladenen Auslagen kommt, dem wird recht eigentümlich zumute, wenn der Magazinsangestellte die Verschnürung von einem Paket oder von einer Pappschachtel löst und dann eine Kinderschürze, ein Hemdchen, ein Paar Handschuhe zum Vorschein kommen.

ES GÄBE FREILICH AUCH ANDERE HISTORIEN — aber das Geschäftsgeheimnis legt sich schützend darüber. Man kann nur der Intuition vertrauen und dem — oft von der Jahreszeit gestützten — Vergleich. In dem jetzt, während der warmen Jahreszeit reichlich dotierten Lager der Pelze befinden sich Stücke, die mit mehreren 10.000 S belehnt wurden. Ich frage den, die hängende Pracht der Nerze aller Preislagen ordnenden Angestellten, was solche, offensichtlich doch begüterte Kreise mit so hohen Beträgen — einmal lese ich sogar „75.000 S“ — eigentlich anfangen. „Das wissen wir nicht“, lautet die Antwort. Von anderer Seite höre ich, daß es nicht selten ist, wenn mit so einem hohen Darlehen eine Eigentumswohnung bezahlt oder angezahlt wird. Das hieße, daß vor einem schönen Wohnen — oder der Möglichkeit, schön wohnen zu können — der teure Pelzmantel liegt, den man sich womöglich noch auf Abzahlung gekauft hat. Meine Hand gleitet über einen prächtigen Zobelpelz. Kann sein, daß seine Besitzerin in der nächsten Saison nicht die erste Opernpremiere wird besuchen können. Oder hat sie noch einen zweiten Pelz? Wieder von anderen Leuten wurden“ mir Fälle genannt, wo man die Urlaubsreise nach dem sonnigen Süden mit dem Darlehen finanziert hat. „Und was geschah dann mit dem Urlaubsgeld?“ frage ich den nächsten Angestellten. Der scheint entweder ein Witzkopf oder ein Psychologe zu sein. „Das Urlaubsgeld ist als Anzahlung auf einen Gebrauchtwagen verwendet worden, glauben Sie nicht?“

DAS LEBEN DA UNTEN in den Magazinen, auch wenn sie ausgezeichnet beleuchtet und. mit Klimareglern versehen sind, kann ich mir nicht als besonderes Vergnügen vorstellen. Dazu kommt die Ahnung von der hier zu leistenden Arbeit, die alle gewohnten Vermutungen übertrifft. Die Magazinsangestellten legen täglich viele Kilometer zurück, um die vielartigen Gegenstände des täglichen Gebrauchs, die als Pfänder hinterlegt werden, schonend und pfleglich zu verwahren — ohne Rücksicht darauf, ob es ein Nerz oder eine Kinderschürze ist, ob darauf 10 oder 10.000 S Belehnung stehen. Bei dem' Vorwiegen der kleinen Darlehen und der Tatsache, daß ein Drittel der Angestellten für die Übersicht, für den Transport und für die Betreuung (Reinigung, Konservierung) eingesetzt ist, wird jedermann begreifen, daß die Kleindarlehen an Buchhaltungs- und Verwaltungsarbeit weit höhere Kosten verursachen als etwa ein offener Kredit bei einer Bank.

DAS GESICHT DES MENSCHEN vor dem Schalter entzieht sich jeder sachlichen Beschreibung. Man kann nur sagen: diese Frau dort die eben einen Pack Stoff auf den Ladentisch vor dem Schätzmeister ausbreitet und mit einem flackernden Blick in dem Gesicht des Angestellten zu lesen versucht, nach der Schätzung mit gelöster Miene weiter zur Kasse geht, erzählt eine Geschichte, vielleicht das Kapitel eines Romans, der noch nicht geschrieben ist. Jener Mann dort drüben — welcher Künstler des Pinsels, welcher Routinier der Photolinse vermag wirklich völlig die Enttäuschung abzubilden, die sich zeigt, als die Belehnung eines Radioapparats abgelehnt wird?

VORWÜRFE GIBT ES IMMER. Da waren es einmal die eingehobenen Gebühren, das andere Mal die wegen angeblich bedenklicher Belehnung. Ein Vergleich der eingehobenen Gebühren gegenüber anderen Kleinkreditinstituten oder Privatpfandleihern fällt sowohl im In- als im Ausland zum Vorteil des Wiener Dorotheums aus, das nicht auf Gewinn abgestellt ist und im Versatzbetrieb, der als Wohlfahrtsbetrieb geführt wird, kaum je das Prinzip der Kostendeckung erreichen kann.

DIE ZUR FINANZIELLEN ENTLASTUNG des Versatzbetriebes dienende Versteigerungsund Spareinlagen-Bankabteilung wird nach kommerziellen Gesichtspunkten geführt. Die Versteigerungsabteilungen - wann immer man das Haus in der Stadt betritt, ist ein lebhaftes Treiben in allen Sälen - haben sich durchaus bewährt, obwohl gegen sie, aus recht durchsichtigen Gründen, ein publizistisches Kesseltreiben veranstaltet worden war. Was dahinterstand, wäre eines Komödienschreibers wert *

MACHEN DIE PFANDHÄUSER PLEITE? fragte eine auswärtige Zeitung vor kurzem und verwies darauf, daß heute in den Pfandleihanstalten nur ein Drittel der Frequenz von 1933 herrscht. Abgesehen davon, daß die einzelnen Länder große Schwankungen zeigen (Rückgang in Italien nicht stark, in Frankreich beträchtlich: Mont de Piete hat 1933 rund 550.000 Pretiosen gehabt, heute sind es 95.000), geben Wirtschaftsgliederung und soziale Struktur genug noch aufzulösen. Zudem: man sieht nur die Gesamtzahl und nie — oder will es nicht sehen - das individuelle Schicksal. Gegen unverschuldete Zwangslage gibt es keine Versicherung, und solange nur ein einziges besorgtes Frauengesicht vor dem Tisch eines Schätzmeisters steht, erfüllen Anstalten wie das Dorotheum eine öffentliche Aufgabe.

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