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1453-1953: Europas neues Gewicht

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In der Morgendämmerung des 29. Mai 1453 beginnt der letzte Sturmangriff. Am Tor des heiligen Romanus wird eine Bresche geschlagen. In ihr fällt der Kaiser Konstantin XL Zwei Tage später reitet der Sultan hoch zu Roß in die Hagia Sophia ein und stimmt, als Siegessang, eine Sure des Korans an.

Die heilige Stadt des Konstantin, des Ahnherrn aller christlichen Kaiser und Könige des christlichen Abendlandes, die Stadt des Heiles, von den Griechen und Barbaren hoch verehrt, das zweite Rom, die Kaiserstadt (Zarigrad) der Slawen, deren Macht und Glanz bis an die Grenzen Asiens wohlbekannt war, ist sie doch die Fulisi der Chinesen, fällt also vor fünfhundert Jahren in die Hände der Türken und des Islams.

Diese Tatsache verrückt die Gewichte Europas in einer Weise, die wir erst heute zu ermessen beginnen. — Diese Verlagerung und Umbildung des gesamteuropäischen Schwergewichts ist aber keineswegs in der oft dramatisierten Darstellung vom Einzug und Sieg des Islams in Konstantinopel zu suchen. Wohl wird, noch für Jahrhunderte, der Islam ein ge-fürchtetes und bewundertes Schreckbild für das „andere Europa“ sein, das ohne ihn, allerdings in seiner arabisch-spanisch-mittelmeeri-schen Form, undenkbar ist. Der mittelalterliche Katholizismus, das Rittertum und der Minnesang, höfische Kultur. und Scholastik, Thomas und Dante sind undenkbar ohne ein dreihundertjähriges Freund-Feind-Gespräch mit Geist und Gefühl der islamitischen Intelligenz zwischen Toledo, Neapel, Sizilien und dem Nahen Osten. Ein halbes Jahrtausend haben die „apostelgleichen“ Kaiser in Neu-Ronv in Konstantinopel, sehr oft sehr gute und intime Beziehungen zur arabisch-islamitischen Kultur unterhalten. Islamitische Theologen in Bagdad rühmen deren hohe Kultur, byzantinische Geistesmänner, wie Theodoros Metochites, lesen den Koran, die Kabbala. genau so wie die Bibel. Von Karl dem Großen und der auf den Islam eifersüchtigen spanischen Emigration an seinem Hofe angefangen über Kardinal Humbert von Silva Candida, den Wegbereiter Gregors VII., der die endgültige Trennung des Westens von der Ostkirche besiegelt, bis zu den Kontroverstheologen des 15. Jahrhunderts verstummt deshalb auch nie die Anklage wider Konstantinopel, ein offener oder geheimer Verbündeter des Islams zu sein. Es geziemt, festgehalten zu werden: Die gebildeten Byzantiner fühlten sich den gelehrten islamitischen Dichtern, Aerzten, Beamten zwischen Bagdad und Jerusalem viel intimer verbunden als den „ungebildeten“ „fränkischen“ Barbaren, die sich zu Kreuzzügen berufen fühlten, zu denen die Byzantiner sie nicht gerufen hatten. Wir wissen heute endlich, daß der berühmte „Hilferuf“ des byzantinischen Kaisers, der den ersten Kreuzzug auslöste, von der christlichen Ritterschaft Westeuropas unter Führung der gerstlichen Reformbewegung mißverstanden wurde: Er war nicht gedacht als ein Aufruf zur Befreiung des heiligen Landes, sondern als ein Ansuchen um Söldnertruppen in den lokalen Kämpfen der oströmischen Kaiser. Diese waren viel zu klug, um nicht vorauszusehen, was sehr bald geschah: Die Eroberung und Plünderung Konstantinopels durch die christlichen Kreuzfahrer, Akte, die an Grausamkeit in nichts zurückstehen hinter islamitischen Metzeleien späterer Zeit. Mit unverhohlenem Haß sahen deshalb bereits die Byzantiner dem ersten Heranrücken der westeuropäischen Truppen entgegen. Dieser Haß der ostkirchlichen Orthodoxie, der byzantinischen Intelligentia, und dei einfachen Bevölkerung des Ostreichs gegen der

„ungläubigen“ Westen ist für die Geschichte Europas tausendmal bedeutender und folgen schwerer zu werten als die Kontroverse Konstantiropels mit dem Islam.

Gewiß, die Türken des 15. Jahrhunderts, eir Steppenvolk aus Innerasien, waren nicht zi identifizieren mit den griechisch und sehr of auch christlich gebildeten arabischen Fürsten und Gelehrten des 9. bis 13. Jahrhunderts. Dennoch entwickelte sich auch hier seit dem ersten Erscheinen der Türken im oströmischen Raum sehr schnell eine Fülle von komplexen Beziehungen. Hundert Jahre lang umlagerten die Ottomanen bereits Konstantinopel. 1345 haben sie die Dardanellen überschritten, Rume-lien und Makedonien besetzt, den Balkan durchherrscht, sind bis Ungarn vorgedrungen und haben gleichzeitig in ihrem Hinterland, in Kleinasien, nur unsicher Fuß gefaßt, ständig dort bedroht durch rivalisierende türkische Dynastien. Als Konstantinopel fällt, besitzen sie beispielsweise weder Trapezunt, in der Hand der Komenen, noch die wichtigen Städte Sinope, Erzerum, Diarbekir oder Konia. Seit ihrem ersten Auftreten in Europa besitzen die Türken griechische Verbündete. Ein Jahr nach dem Fall von Gallipoli (1346) heiratet der zweite Sultan bereits Theodora, die Tochter des Kaisers Johannes Cantakuzene. In diesem Jährhundert der Vorbereitung infiltrieren die Türken Konstantinopel selbst; sie errichten hier Moscheen — eine derselben, Daud Pascha, steht heute noch. Ende des 14. Jahrhunderts haben die Muselmanen in der heiligen Stadt des Konstantin bereits einen Kadi, das islamitisch-christliche Doppelantlitz der Stadt wird also hier bereits vorgeprägt. — Nach dem Falle Konstantinopels übernehmen die neuen Souveräne einen Großteil der politischen Kultur und Umgangsformen, das Kanzleiwesen, das höfische Zeremoniell, den Stil des öffentlichen und selbst familiären Lebens der byzantinischen Kaiser. Der Eroberer selbst, Mehmet Fatih, führt als Ersatz für die in den Kämpfen umgekommene christliche Bevölkerung Konstantinopels die Bevölkerung zahlreicher christlicher griechischer Städte nach Konstantinopel über, bald wird der griechische orthodoxe Patriarch ein gefügiges Werkzeug der ottomanisthen Politik, zudem auch das zivilrechtliche Oberhaupt der Christen. Sehr schnell werden zudem die Sieger von den Besiegten unterwandert.

Die Türken waren, wie einst die Araber In Spanien, zahlenmäßig sehr schwach, sie besaßen weder eine gesicherte Dynastie noch einen geschlossenen Adelsstand, keine eigene Bürokratie, kein ins Gewicht fallendes Bürgertum, nicht zuletzt auch keinen berufsmäßigen islamitischen Klerus. Bekanntlich hat sich eine einzige Familie von Staatsmännern behaupten können bis ins 17. und 18. Jahrhundert, die der Köprülü, der auch der heutige türkische Außenminister angehört. Wichtigste Aemter werden von Christen und Exchristen, von Männern westlicher Herkunft besetzt, während die Sultane ihre Gattinnen vom Balkan oder Kaukasus holen.

Konstantinopel bleibt für die meisten Sultane bis ins 19. Jahrhundert eine fremde, unruhige, feindliche Stadt. Sie 2i'ehen es deshalb vor, außerhalb des Stadtkomplexes zu residieren.

Das Ereignis von 1453 ist also nicht nach den melodramatischen Szenen des Falles der heiligen Stadt des Konstantin und auch nicht primär nach dem „Sieg des Islams“ daselbst zu werten. Wichtiger als das faktische Vordringen der Türken in Südosteuropa, das sie bekanntlich zweimal vor die Tore Wiens führt (1529 und 1683), ist die mentale Wirkung,, der Türkenschreck, den Wienern bis in unsere Tage im Fluch- und Schreckwort „Kruzitürken“ (Kuruzen und Türken) in Erinnerung gehalten. Die große Angst vor den Türken wirkte in Westeuropa weit unheilvoller als die faktische Bedrohung und der Schaden der türkischen Heere. Diese Angst schuf Sperrzonen, innerhalb derer sich der europäische Geist verdüsterte, die Seele sich verzerrte. Mehr als man bisher zu sehen vermochte, sind die innereuropäischen Kämpfe, vor allem zwischen den christlichen Konfessionen, zwischen Katholiken, Lutheranern, Kalvinisten, zwischen Reformationen und Gegenreformationen, rnitbedingt, mitgestaltet worden durch die Angst vor den schrecklichen Türken. Wenn Luther den Papst für teuflischer als die Türken erklärt, wenn die Einberufungsurkunde zum Trientiner Konzil der Angst vor den Türken als einer Weltuntergangsangst der zerrissenen Christenheit beredten Ausdruck gibt, dann sind das einige Andeutungen der innereuropäischen Schrumpfung im Angesicht der Türkennot. Die europäische Seele wird verdunkelt, der europäische Geist, eben noch weit und strahlend, mit Erasmus, Colet, Morus, Bude, Cisneros Ficino und vielen anderen christlichen Humanisten verengt und verstarrt sich, wird inquisitorisch und verfolgend, entbrennt in Kreuzzugseifer wider die getrennten christlichen Brüder, denen offen und insgeheim die gemeinsame Schwäche der Christenheit nach außen vorgeworfen wird.

Dieser Verengung schien zunächst, mächtig erregend und befruchtend für ganz Westeuropa, die griechische Emigration entgegenzuwirken, eine Schar begeisterter Humanisten, die in Rom, Florenz, Venedig, Paris Begeisterung für die hellenische Antike und klassische Humanität zu wecken versteht. Die sogenannte Renaissance ist undenkbar ohne den Eifer dieser oft hochgebildeten Emigranten und die Eifersucht der nationalen westeuropäischen Humanisten, die durch ihre Studien jene übertrumpfen wollen. Gemisthos Plethon wirkt bei der Gründung der Florentiner platonischen Akademie durch Cosimo Mediä mit, der Kardinal Bessarion gründet die römische Akademie, venezianische Adelige bilden philosophische Runden mit griechischen Jüngern des Aristoteles, Hermonymos von Sparta und Johannes Ar-gyropulos geben in Mailand zum erstenmal Homer heraus, in Paris schafft der politisch und geistig bedeutendste dieser Emigranten,Johannes Andreas Lascaris, die Grundlagen für das spätere College de France.

Es scheint also, als würde sich in diesen Akademien und gelehrten Gesellschaften Westeuropa neu als eine Gesprächsgemein-sChaft konstituieren — nachdem die alte in der Welt von Byzanz und des alten arabischen Islams heimische Tradition des Dichterund Gelehrtenwettstreits, der öffentlichen Diskussion, des Streitgesprächs und geistigen Wettbewerbs im türkisch überherrschten Mittelmeerraum erloschen war. Das ist aber nur sehr zum Teil der Fall. Die griechische Emigration bringt nämlich aus dem Osten nicht nur ihre bisweilen bedeutende klassi-zisti'ScheSchulbildung mit, sondern ein böses Erbteil: Den tausendjährigen Haß der Byzantiner, der Neurömer, gegen Rom, gegen den Westen. In den westeuropäischen Gastlanden kann sich diese Aversion naturgemäß nur als Ressentiment, in politischen Intrigen befriedigen. Ein weltgeschichtliches Feld für ihre Aspirationen finden diese Emigranten aber nun am orthodoxen Balkan, in Bulgarien, Serbien und Rumänien, deren Fürsten, die phanariotischen Hospodaren, mit dem byzantinischen Zeremoniell die gesamte Lebensart, den politischen Stil der byzantinischen Herrschaftsclique bis zum 18. Jahrhundert über erhalten. Vom Balkan führt der Weg nach Moskau, das die Nachfolge Konstantinopels antritt und als Erbschaft ich dessen Haß gegen den „dekaden* ten“ ungläubigen Westen übernimmt. Ein' Vorgang, der die inneren Gewichte Europas entscheidend verlagert. Die russischen Erzählungen vom Fall Konstantinopels leiten das nunmehr erst erwachende Interesse Moskaus das sich soeben aus dem Tatarenjoch erhebt, für den Westen ein — unter dem Aspekt! das alte erste Rom, Westeuropa und sein

Christenheit ist ob seiner Sünden und seiner politischen Korruption zugrunde gegangen, das zweite Rom, Konstantinopel, geriet unter die unrechtmäßige Herrschaft der türkischen Ungläubigen (die durchaus auf eine Stufe mit den westeuropäischen Ungläubigen gestellt, denen bis zu 40 Irrlehren, Abfälle vom reinen Christentum ■ vorgeworfen werden), das dritte Rom, Moskau, das heilige Rußland, das heilige Gottträgervölk unter seinem heiligen Herrscher über die Leiber und Seelen aller Rechtgläubigen, wird bis ans Ende der Tage bestehen. Seine Mission: die Ungläubigkeit zu bekehren, zu unterwerfen, die ganze Welt zu reinigen von der römischen westlichen und türkischen Unzucht. Das junge Zarentum ist zu klug, den Einflüsterungen der griechischen Emigration nachzugeben, die zum Kriege hetzt — gegen den Westen, gegen das türkische Byzanz. Es verwehrt sich gegen die Uebernahme der Kreuzzugsideologie, schließt sich ab gegen den Westen und den türkischen Osten. Konsequent aber übernimmt es, zum eigenen Gebrauch, die byzantinische Staatskunst, dieses Spielen mit vielen Würfeln und vielen Spielregeln, die meisterhaft gehandhabte Kulturpolitik und Heiratspolitik, nachdem der erste Zar, Iwan III., Zoe-Sophia, die kaiserliche byzantinische Prinzessin geheiratet hat, unter Vermittlung des Papstes.

Hier beginnt nämlich, gleich nach dem Fall Konstantinopels, nicht nur die Byzan-tinisierung Rußlands, die Uebernahme des Doppeladlers, die Herrschaft des Zaren über die orthodoxe Kirche und die Ausbildung des russischen religiös-politischen Messianis-mus, sondern auch die Ostorientierung der römischen Kurie, die seither nie mehr den Blick nach dem Osten verliert. Diese Heirat wird in Rom geschlossen. Die Kurie hoffte dergestalt, Rußland für den römischen Katholizismus zu gewinnen. Sie trifft hier aber auf ihren größten politischen Gegner, der nicht zuletzt unter dem Einfluß der griechischen Emigranten und des tausendjährigen Hasses der Ostkirche, sich gegen Rom entscheidet. Als Nachfolger des „apostelgleichen“ griechischen Kaisers wendet sich der Moskauer Zar, als einziger legitimer Herrscher über die Rechtgläubigen, gegen den „Teufelsdiener in Rom“.

Mit dieser entschiedenen Abkehr vom Westen gelingt gleichzeitig dem dritten Rom, Moskau, ein nicht minder bedeutender Erfolg: Es wird zum faszinierenden Sammelpunkt der griechischen Intellektuellen, die bewußt dem Westen und seinen „Verführungen“ absagen, um dem „reinen Glauben“ in Moskau zu dienen. Seit wenigen Jahren, seit den Forschungen Denissoffs, wissen wir, daß Michael Trivolis, ein junger griechischer Emigrant in Italien, daselbst genährt mit allen Blüten der italienischen Renaissance, Anhänger sodann Savonarolas und kurze Zeit Mönch in dessen Kloster San Marco in Florenz, Westeuropa den Rücken zuwendet, weil es ihm nicht radikal genug Ernst macht mit den Forderungen des Evangeliums. Er wird zunächst Mönch auf dem Athos und steigt dann als Maximos der Grieche in Moskau, in einem jahrzehntelangen Buß-Bildungs-Reform-Leben zum großen Führer und Heiligen der Ostkirche auf. Alt- und Neugliiubige verehren ihn später als ihren Patron. Seine Gestalt darf symbolisch stehen für viele Vorgänger und Nachfolger: Intellektuelle, die dem Westen den Rücken zukehren, weil sie die Härte und monumentale Geschlossenheit der moskowitischen neu-byzantinischeft Welt fasziniert in Bann schlägt.

Fassen wir zusammen: Unsere Erinnerung, 1953, an den Fall Konstantinopels, 1453, gilt einem Vorgang, in dessen neuer Ausfaltung wir heute mitten driniien stehen. Europa ist von da an nicht mehr Westeuropa, sondern ein Kontinent, der in sich die Welt des türkischen Islams und des neubyzantinischen Ostens unter der Führung Rußlands zu verarbeiten hat. Alles hängt davon ab, w i e es diese Belastung, diesen ungeheuren Druck trägt, axisträgt. Die katastrophalen Folgen der Türkenangst weisen darauf hin, daß Phobien und Psychosen solcher weltgeschichtlichen Tatsachen nicht Herr werden können. Abgesehen davon, daß sie den Blick trüben für die so notwendige Erkenntnis der wahren Unterschiede und Gegensätze, für die Unterscheidung des Verwandten und Unverwandten, des radikal anderen, bilden sie Kurzschluß- und Engpaßsituationen, aus denen es keinen Ausweg gibt, weil kein Ausblick mehr besteht. Millionen Christen, verängstigte Christen in Westeuropa, schien mit dem Fall Konstantinopels der Untergang des Abendlandes gegeben. De facto begann damit der Aufstieg zu seiner weltgeschichtlichen Entfaltung. Die Möglichkeiten der Geschichte sind unerschöpflich für den Menschen, der nicht das Vertrauen verliert in den guten Sinn seiner Sache. Für ihn, und für ihn allein, führen schließlich alle Wege nach Rom. In eine neue Menschheit, jenseits des Neu-Rom am Bosporus, jenseits auch des dritten Rom und seines düsteren Abgesanges der Aengste und überhitzten Hoffnungen seiner Vorgänger.

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