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Ägyptens Rückkehr nach Ägypten

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Am Nil reagieren Ägypter und Ausländer, erstaunlicherweise, ganz verschieden auf die Wahl Anwar es-Sadats zum Nachfolger Gamal Abdel Nassers. „Er-Rais“ beflügelte die Phantasie der Massen ebenso wie die der professionellen Beobachter der politischen Szenerie im Nahen Osten. Die Massen haben noch kaum begriffen, daß es ihn nicht mehr gibt. Die Professionals — Diplomaten und vor allem Journalisten — bedauern offenkundig das Verschwinden einer zu enthusiastischem Beifall ebenso wie zu fanatischen Widerspruch reizenden Figur. Ihrer Arbeit fehlt künftig sicher viel Würze, ihren Berichten manche kräftige Farbe. Gamal Abdel Nasser überanstrengte Ägypten und die Ägypter. Beide waren, wie sich frühestens beim vorzeitigen Zusammenbruch der „Vereinigten Arabischen Republik“ (1961) und spätestens nach dem verlorenen Jemen-Feldzug (1967) herausstellte, ungeeignet für die ihnen von ihrem Führer zugedachte Rolle. Am 9. Juni 1967 zogen sie zwar den ehrlich Resignierenden unter sanfter Nachhilfe der bezahlten Agitatoren der Einheitspartei „Arabische Sozialistische Union“ wieder ins Amt. Doch der damals abgesetzte Zakariia Mohied-din artikulierte eine weit verbreitete Stimmung, als er sich von seinem Chef verabschiedete mit dem Satz: „Nur Sie selbst können die Suppe auslöffeln, die Sie sich und uns eingebrockt haben!“

Jetzt Ist der ,,Rais“ tot, und) die Ägypter richten sich ein mit der Hoffnung, dem Nachfolger gelinge das womöglich noch leichter.

Der Erblasser war schon von der Statur her eine den Massen imponierende Persönlichkeit. Er war ein körperlicher Riese. Er hatte „politischen Charme“, was auch seine Feinde nicht leugnen konnten. Der Erbe wirkt wesentlich kleiner. Dem Aussehen nach und auch hinsichtlich der politischen Potenz. Die Kommentare zu seiner Wahl enthielten denn auch fast nur mit einer gehörigen Portion Enttäuschung vermischte Unfreundlichkeiten. Er sei nichts als „ein treuer Diener seines Herrn“ gewesen, farblos, werde sich kaum durchsetzen können, sicher nur ein Kompromiß- und bestimmt lediglich ein Übergangspräsident. Die Ägypter lächeln über derlei Feststellungen, und sie halten der näheren Betrachtung denn auch kaum stand. Anwar es-Sadat ist ein Jahrgangsgenosse des „Rais“. Wie dieser, war er ursprünglich Berufsoffizier, doch der Herkunft nach unterscheiden sich beide wie Tag und Naeht. Abdel Nasser war gebürtiger Alexandriner, wenn auch seine Vorfahren Fellachen waren. Die Araber außerhalb Ägyptens betrachten bekanntlich die Ägypter gar nicht als „echte“ Araber; die Ägypter wiederum berufen sich weitaus lieber auf ihre gloriose pharaonische Vergangenheit als auf ihren Anteil am Erbe des Propheten. Sich die Zugehörigkeit zum Arabertum abzusprechen, gehört zu den beliebtesten Gesellschaftsspielen arabischer Politiker. Houari Boumedienne, einem halben Berber, blieb es vorbehalten, böse zu konstatieren, der „Rais“ sei ja gar kein Araber. Der „Rais“

jedoch, und mit ihm sein Volk, war stolz darauf, daß er seit fünftausend Jahren der erste Ägypter war der Ägypten regierte. Das erklärt viel von der Anhänglichkeit der Niltalbewohner für den Diktator. In Wirklichkeit aber hatten beide Unrecht, Boumedienne wie Abdel Nasser. Des ,,Rais“ Familie stammte aus dem oberägyptischen Beni Mor (zu deutsch: „Söhne der Bitterkeit“). Dessen Einwohner wanderten vor etwa vierhundert Jahren während einer Hungersnot, und das erklärt den Stammesnamen, von der Arabischen Halbinsel ins fruchtbare Nal-tal ein. Aus den nomadisierenden Beduinen wurden unter dem Druck der Verhältnisse, seßhafte Fellachen. Abdel Nasser war also sehr wohl ein ziemlich reinblütiger Araber. Vielleicht war das die oder eine der tief in der Geschichte wurzelnden psychologischen Erklärungen für seinen Drang nach der panarabischen Führerrolle? „Reinblütiger Ägypter“ war er jedenfalls keineswegs.

Das ist indes sein Nachfolger Anwar Es-Sadat. Er ist.nubisch-felilachisches Erbteil, viel dunkelhäutiger als Abdel Nasser. Er, und nicht sein Vorgänger, ist also der erste Ägypter seit den Pharaonen an der Spitze Ägyptens!

Es-Sadat stammt aus einer mittel-ständischen Familie in Assuan. Der Mittelstand, im Niltal wie in den übrigen arabischen Staaten bis zu den durch Abdel Nassers Staatsstreich ausgelösten sozialen Umwälzungen nahezu ganz ausgeschlossen von der politischen Mitbestimmung, entsandte seine Söhne mit Vorliebe in die Armee. Dort lernten sie am leichtesten den Umgang mit westlicher Lebensart, und auf diese setzt© das mittlere und kleine Bürgertum seine ganzen emanzipatorischen Hoffnungen. Auf der Militärakademie Abbassia waren Abdel Nasser und es-Sadait, 1938, die ersten bürgerlichen Kadetten. Eine Freundschaft zwischen beiden war daher ganz zwangsläufig. Es-Sadat war dabei durchaus nicht der wendiger Bedeutende. Abdel Nasser war damals und blieb es bis zu seiner „Machtergreifung“, ein recht unrealistischer Tagträumer. Er glaubte allen Ernstes, es bedürfe lediglich der Beseitigung der Monarchie, und das dadurch befreite Volk werde seine Zukunft selbst gestalten. Es war Es-Sadat, der früh erkannte, daß echter politischer und sozialer Fortschritt tiefgreifende soziale Umwälzungen voraussetzt. Schlichter in Damaskus und Sana'a und Reisender in Sachen Politik, hatte er auch echten Anteil an der Entwicklung der ägyptischen Außenpolitik der letzten drei Jahrfünfte.

Im oberägyptischen Mankabad, bei den um ihre romantische Lagerfeuer unter dem Kreuz des Südens in der dortigen weltentlegenen Garnison versammelten blutjungen Offizieren, stieß Es-Sadat Ende der dreißiger Jahre zum Verschwörerkreis des ihm schon aus Abbasia bekannten Abdel Nasser. Im zweiten Weltkrieg wurde er, verheiratet mit einer gebürtigen Deutschen und ausgezeichneter Kenner der deutschen Sprache, Geschichte und Literatur, zu einer Schlüsselfigur des Widerstandes gegen die britische Kolonialmacht.

Abdel Nasser Siegte im Jahre 1952 den Termin des Losschlagens völlig überraschend und ohne einen seiner politischen Freunde zu informieren fest. Auch Abdel Hakim Amir und der als nominelles Putschoberhaupt auserkorene General Mohammed Naglb erfuhren erst wenige Stunden zuvor davon.

Es-Sadat war dann, drei Tage später, einer der drei Offiziere, die den gestürzten König Faruk unter Salutschüssen verabschiedeten. Seitdem bestand nie ein Zweifel an seiner politischen Zuverlässigkeit und an seiner persönlichen Treue zu Abdel Nasser.

Dieses Verhalten machte den stillen und selten lachenden Fünfziger zum idealen Kompromißkandidaten für die Nachfolge des „Rais“. Der Machtkampf geht hinter den Kulisisen zweifellos weiter, und es scheint beinahe unausweichlich, daß Es-Sadat früher oder später von einer der beiden rivalisierenden Gruppen oder auch von der Armee abgelöst wird. Ihnen allen gegenüber hat er freilieh einen nicht zu unterschätzenden Vorteil: Die erstaunliche Fähigkeit zum politischen Überleben, die er im rauhen Klima nasserister Machtpolitik bewiesen hat und die man ihm heute zum Vorwurf macht, könnte ihn durchaus befähigen, sich an der Spitze zu behaupten. Gelänge ihm das auch nur für einige Jahre, könnte er sowohl die Hypothek der ägyptischen Beteiligung am Palästinakonflikt abtragen als auch, ohne die kaum noch wieder aufzulösende enge Bindung an die Sowjetunion zu beeinträchtigen, einen Prozeß der Verbreiterung der politischen Basis des Regimes und der echten politischen Mitbestimmung wachsender Bevölkerungskreise einleiten.

Sollte sich Es-Sadat behaupten können, wäre er vielleicht so etwas wie der Kädär Ägyptens. Jänos Kädär liquidierte bekanntlich den ungarischen Aufstand von 1956 und sicherte dem kommunistischen Regime in seinem Land die Kontinuität. Aber er verwirklichte in der seither verflossenen Zeit beinahe alle Reformpläne des hingerichteten Aufstandspremiers Imre Nagy.

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