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Als icli noch Seelcadett war

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Das Jahr 1907 brachte das Ende meiner umhegten Knabenzeit und den Start zu der Laufbahn, die mein Vater für mich beschlossen hatte. Ich war zwölfeinhalb Jahre und sollte im Mai in das Königliche Marine-College in Osborne eintreten.

Von der berühmten Firma Gieve, Mathews & Seagrove, Marineausstatter, kam ein Mann, um mir für die Uniform Maß zu nehmen; mein Vater überwachte persönlich die Anproben. Ich war sehr stolz über die blaue Jacke mit den blanken Knöpfen und den weißen Kadettenstreifen am Kragen und über die Marinemütze; ich paradierte damit vor meiner Schwester und meinen Brüdern.

Dann kam der schicksalsschwere Tag meines Abschieds, und mein Vater brachte mich nach Osborne. Obwohl ich entschieden bemüht war, die Ehre der britischen Marine (oder was ich mir darunter vorstellte) hochzuhalten, tropften beim Abschied vom Marlborough-Haus meine Tränen auf die neue blaue Uniform. Im Zug nach Portsmouth beruhigte mich mein Vater mit Geschichten aus den Anfängen seiner Marinelaufbahn. Als wir über Spithead nach Cowes dampften, wurde er schweigsam. Erst kurz bevor die Fähre anlegte, sagte er: „Jetzt, da du das Elternhaus verläßt, David, und in die Welt hinausgehst, denke immer daran, daß ich dein bester Freund bin.“

Die Ausbildung eines britischen Seekadetten erforderte zu jener Zeit vier Jahre Ausbildung an Land, von denen die beiden ersten in Osborne absolviert wurden. Das Marine-College bestand aus einer Reihe von alten Gebäuden, die sich um die ehemaligen Stallungen Königin Victorias gruppierten. Diesen großen einstöckigen Bau hatte man in eine Messe und in Klassenräume umgewandelt mit Fenstern zum Hof hin. Das College von Osborne stand in dem Rufe, ungesund zu sein, was man mit Recht oder Unrecht seiner Lage auf dem ehemaligen Stallgelände zuschreibt. Auf jeden Fall waren die Schlafräume zu der Zeit, als ich hinkam, schon so baufällig geworden, daß wir, ohne uns die Füße zu verletzen, Löcher in die Außenwände treten konnten.

Es war üblich, daß die neuen Zöglinge zwei Tage früher ankamen, bevor der Rest des Colleges aus den Ferien zurückkehrte. Diese Zeitspanne gab auch mir Gelegenheit, mich zurechtzufinden, ehe die Senioren erschienen. Jeder Zögling von dem neuen Jahrgang mußte damit rechnen, daß man ihn wegen irgendeiner Besonderheit in seiner Erscheinung aufzog und ihn nach allen persönlichen Dingen ausfragte — sein Name, wer sein Vater sei, wo er wohnte. Natürlich mußten alle Antworten, die ich darauf geben konnte, einen vernichtenden Eindruck machen, denn abgesehen von meiner königlichen Abstammung und unseren Residenzen ließ mich die Tatsache, daß ich bisher nie auf einer Schule gewesen war, als ein Monstrum erscheinen.

Die Abgeschiedenheit meines bisherigen Daseins rollte sich auf wie ein Vorhang. Am ersten oder zweiten Tag nach ihrer Rückkehr kamen einige aus der sechsten Klasse oder Seniorenzöglinge auf die Idee, daß seine Königliche Hoheit Prinz Edward bedeutend besser aussehen würde, wenn sein blondes Haar rot gefärbt sei. So wurde ich denn eines Abends vor „Quarters“ (dem Abendantreten) vo-i meinen Peinigern in eine Ecke getrieben und mußte stillstehen, während einer von ihnen eine Flasche roter Tinte über meinen Kopf ausgoß. Die Tinte tropfte mir in den Nacken und ruinierte eines meiner wenigen weißen Hemden. Im nächsten Augenblick wurde zum Antreten geblasen. Die von der Sechsten rannten weg, um sich einzureihen, und ließen mich in einem entsetzlichen Zwiespalt. Hier konnte mir alles, was ich zu Hause gelernt hatte, nichts helfen.

Ich konnte nicht, von roter Tinte triefend, antreten; dann hätte ich die Senioren verpetzen müssen. Wenn ich aber beim Antreten fehlte, kam ich am nächsten Morgen in den Rapport des Kommandeurs. Der einzige vernünftige Weg war, meinen guten Ruf zugunsten der Senioren zu opfern, denn ich wußte, daß meine Bestrafung durch den Kommandeur nichts gegen das war, was meine Peiniger mit mir machen würden, wenn ich petzte. So stahl ich mich im Schutz der Dunkelheit davon, um mir ein reines Hemd aus meiner Seemannskiste zu holen, und wartete darauf, daß man meine unerklärliche Abwesenheit entdeckte und meinen Namen auf die Liste setzen würde. Die Strafe war nicht übermäßig streng; sie fiel in die Kategorie „drei Tage 1 A“, das bedeutete, daß ich in den nächsten drei Tagen meine Stunden abwechselnd damit zubringen mußte, mit einem Stock zwischen den Schultern rund um den Hof zu gehen oder eine Stunde lang die Wände im Mannschaftsraum anzustarren.

Eine andere Form von Neckerei, die mir nicht besonders angenehm war, bestand in einer scherzhaft gedachten Zeremonie, die, wenn ich mich recht erinnere, diese selben Peiniger an mir vollzogen. Das Schiebefenster in einem leeren Klassenzimmer wurde so weit hochgeschoben, daß man meinen Kopf durchstecken konnte, und dann ließ man es nieder und auf meinen Nacken fallen, eine grausame Mahnung an das düstere Schicksal Karls I. und an die britische Fähigkeit, mit mißliebigen Königin fertig zu werden. Eine ganze Weile, nachdem die Schritte der Senioren sich entfernt hatten, lockten meine Schreie einen Mitleidigen an, der mich — glücklicherweise noch mit heilem Kopf — befreite.

Doch abgesehen von diesen verhältnismäßig milden republikanischen Denkzetteln unterschied sich mein Leben in Osborne nicht von dem eines anderen britischen Seekadetten; es war, im Gegensatz zu der Verwöhnung, die im Namen fortschrittlicher Erziehung heute in manchen Schulen getrieben wird, eine recht spartanische Sache. Jede Klasse war in zwei Wachen eingeteilt: die Steuerbordwache für die aufgewecktere Hälfte, Backbord für die Trottel. Jeder Klasse waren von den zwölf Schlafräumen zwei zugeteilt. Sie hießen alle nach irgendeinem berühmten britischen Admiral, meiner hieß Exmouth. Wo ich als Seekadett stand, mag man daraus ersehen, daß ich meine Marinelaufbahn in der Backbordwache begann.

Zuerst scliien alles besonders hart, weil ich mich ohne jede Schulerfahrung in das mir nicht vertraute Gemeinschaftsleben kleiner Jungen mit all seinen mutwilligen und auch zarten Beziehungen versetzt sah. Früher hatte ich Finch gehabt, der sich meiner Kleider annahm und sie mir nachtrug; jetzt mußte ich allein fertig werden. Und nach dem Komfort unserer verschiedenen Wohnsitze fand ich mich jetzt zusammen mit einigen dreißig anderen Jungen in einen langen und kahlen Schlafraum gestoßen. Der Gesichtskreis meines Lebens schrumpfte zusammen. Es gab nur das harte Eisenbett und eine schwarzweiße Seemannskiste mit drei Abteilungen. Sie enthielten meine Kleider, mein Eßgeschirr und ein privates Schubfach.

Für die Ordnung in jedem Schlafsaal hatten zwei Kadettenkapitäne zu sorgen — das seemännische Gegenstück zum Stubenältesten. Davon gab es vierundzwanzig, die aus den drei Seniorenklassen nach ihren Führereigenschaften ausgewählt waren. Die Kadettenkapitäne trugen besondere goldene Litzen am rechten Aermel und übten eine beträchtliche interne Macht aus.

Im Sommer um sechs und im Winter um sechs Uhr dreißig wurde Wecken auf einem gellenden Horn geblasen. Im nächsten Augenblick warf der Kadettenkapitän uns mit einem entschiedenen Gongschlag aus den Betten, und mit einem fieberhaften Ruck waren wir alle auf den Knien zum Gebet.Nach dem Minimum von Zeit, das nach Ansicht des Kadettenkapitäns genügte, von Gott erhört zu werden, schlug er zweimal heftig auf den Gong und, immer noch halb schlafend, sprangen wir auf die Füße und begannen uns im Takt die Zähne zu putzen.

Dann wurde dreimal der Gong geschlagen; das war das Signal zum Sprung in das arktische Wasserbecken am einen Ende des Schlafsaales. Ich brauche noch jetzt nur die Augen zu schließen, und schon sehe ich wieder vor mir das arme Häufchen nackter, zitternder Knaben, darunter ich, die unter Widerstreben im ersten Frühlicht in das grüngekachelte Wasserbecken getrieben wurden.

Während unserer ganzen Ausbildungszeit hämmerte man unseren jugendlichen Gemütern wieder und wieder ein, es gebe nur zwei Verhaltensweisen — die seemänische und die andere, und diese sei falsch. Mit solch einem strengen Dogma, das unser Leben beherrscht, ist es kein Wunder, daß unser Charakter und unser Gesichtskreis sich auf einer engeren stereotyperen Linie entwickelte als bei unseren Altersgenossen in den Public Schools. Außerdem waren die meisten von uns ja schon in einem viel früheren Alter auf eine Laufbahn festgelegt als andere Knaben.

An Stelle von Latein und Griechisch lernten wir Seemannsknoten machen, Taue spleißen, einen Kutter segeln, Signalisieren, mit dem Kompaß umgehen und alle anderen verzwickten seemännischen Dinge. Ich war unglücklich, daß für die anderen Schulfächer, für die ich begabter war, verhältnismäßig wenig Zeit blieb — Geographie, Geschichte und neue Sprachen.

Am Semesterschluß gab es Prüfungen; die Zensuren wurden auf einer Tabelle vermerkt, damit die Kadetten ihren Stand in der Rangordnung sehen konnten. Indessen herrschte in Osborne noch ein besonderer Brauch. Wenn wir Kadetten in Ferien gingen, mußten wir in versiegeltem Umschlag einen vertraulichen Bericht mit nach Hause nehmen, den wir bei der Ankunft den Eltern oder dem Vormund zu übergeben hatten. Aus meinem ging eindeutig hervor, daß ich ziemlich zuunterst stand.

Jeden Samstagnachmittag defilierten wir vor dem Zahlmeister, um unser wöchentliches Taschengeld zu empfangen. Sobald der Schilling in unserer Hand war, rannten wir zur Kantine, einem kleinen unansehnlichen Gebäude inmitten der Sportplätze. Dort verkaufte uns ein alter Marinepensionär Früchte, Eis, kandierte Datteln und Bonbons. Mit einem Schilling konnte man im Jahre 1907 noch viel machen, ein Dreipennyeinkauf ergab eine ansehnliche Tüte von diesen Delikatessen. Aber bis Mitte der Woche war der Schilling ausgegeben und wir hatten nichts, um die reizlose Collegeverpflegung aufzubessern. Eines Nachmittags, als ich elenden Hunger hatte, kam ich auf einen anderen Ausweg, mich zu trösten. Während eines kurzen Krankenlagers vor einigen Wochen im Revier hatte ich mit der Oberschwester Freundschaft geschlossen. Ich gab Krankheit vor und meldete midi im Revier. Sie merkte bald, daß ich nur simulierte und wollte mich schon wegschicken. Da brach ich in Tränen aus und gestand ihr, ich wollte nur etwas Gutes zu essen. Mit der Ermahnung, das nicht noch einmal zu versuchen, nahm sie mich in ihre Küche und bereitete mir mit dem guten Herzen einer Irin eine gewaltige Teemahlzeit mit Spiegeleiern, frischem Brot und Marmelade.

Im Mai 1909 kam ich nach Dartmouth in Devonshire, um dort meine letzten beiden Ausbildungsjahre an Land abzumachen. Im Gegensatz zu der baufälligen Reihe alter einstöckiger Schuppen in der Ebene stand das imposante, aus roten Ziegeln erbaute College in halber Höhe auf einem Hügel und blickte über den Dart, der Ebbe und Flut hat. Dort lag als Erinnerung an eine ruhmvolle Ver-

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