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Am Anfang steht ein Begrabnis

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Am Anfang jedes guten Geschichtswerkes braucht man — und ganz besonders der angloamerika-nische Leser — eine gute Landkarte, und eine solche weisen die Deckblätter des Bandes auf. Die europäischen Staaten erscheinen nach dem Stande von 1. Jänner 1914 mit ihren Grenzen auf und nach ihren Konstitutionen, eingeteilt in a) absolute Monarchien, b) Monarchien minder bedeutender Dynastien, konstitutionelle Monarchien und

d) Republiken. Taylor, dessen aufrichtige Sympathien, wie wir noch sehen werden, ganz besonders Wien, einigen Habsburgern und Österreich im allgemeinen gehören, schreckt vor Simplifikationen nicht zurück, die auch bei modernen, „linksgerichteten Staatsrechtlern und Historikern Widerspruch erregen dürften: außer dem russischen Zarenreich zählt er das Deutsche Reich und Franz Josephs Österreich-Ungarn zu den absoluten Monarchien, um im späteren Verlaufe die parlamentarischen Schwierigkeiten der verschiedenen k. k. Ministerien mit dem Hause am Franzensring eingehend zu behandeln: auch das jungtürkische Sultanat Mehmed V. wird als absolute Monarchie eingestuft. Die Savoyer und spanischen Bourbonen gelten als mindere Dynastien.

Der Verfasser dieser Zeilen war einst von einem routinierten Wiener Schriftsteller gewarnt worden, ein — übrigens belletristisches — Buch mit der Schilderung eines Begräbnisses beginnen zu lassen. Angloamerikanischen Autoren scheinen europäische Leichenfeiern echte Spannung erregende Einleitungskapitel: Barbara Tuchmann, die bedeutende amerikanische Historikerin, beginnt ihr Werk über die ersten Wochen des ersten Weltkrieges, The Guns of August (New York 1962, Macmillan), mit einer prachtvollen Darstellung der Bestattung König Eduards VII., während Taylor den Doppelmord von Sarajewo und die nachfolgenden bis Artstetten führenden Feierlichkeiten zum Ausgangspunkt seines Buches wählt. Die Schreibweise des routinierten Reporters ist äußerst geschickt, aber auch äußerst journalistisch, das heißt, er unterhält den Leser im Stile einer Art Kolportagebelletristik, wenn wir uns diesen Ausspruch erlauben dürfen. Einerseits wird genau geschildert, wie der Thronfolger aussah, „der dicke Hals schwoll aus dem Uniformkragen“, „der Schnurrbart borstig wie der eines Ebers“, anderseits, was er an diesem 28. Juni 1914

— vor Beginn der Attentate — empfunden haben mußte.

Seit Lord Palmerston ist es untex Angelsachsen üblich, die Habsburgermonarchie nach dem Schema des späteren Gladstoneschen Liberalismus als Epitome der Reaktion und der Unterdrückung Nichtdeutscher hinzustellen: auch Taylor, der die Habsburger bewundert und die Österreicher, ganz besonders die Wiener, liebt, verfällt in diese Haltung. Dabei helfen ihm einzelne Ungenauigkeiten durchaus nicht zurück zum Bewußtsein „des rechten Weges“. Gerade auf - Seite 3, wo begonnen wird, österreichische

„Schlamperei“ und des Thronfolgers Kampf gegen dieselbe zu erklären, passieren dem Verfasser einige kleinere Ungenauigkeiten: Franz Ferdinand hatte den Namen „Este“ keineswegs aus Vorliebe gewählt, sondern es stand ihm dieser Titel als Erben der Erzherzogin und letzten Herzogin Adelgunde von Modena zu. Er war auch nicht erst von Gräfin Sophie Chotek „gesund gepflegt worden“, sondern schon vor der Ehe von seiner Tuberkulose genesen. Endlich von der „verachteten slawischen Minderheit des Kaiserreiches“ zu sprechen, der die morganatische Gemahlin des künftigen „Selbstherrschers“ zugehörte, ist doch wohl eine Verdrehung der Tatsachen; vermutlich hatten die Habsburger, besonders Franz Joseph und später Kaiser Karl, mehr slawische Minister, ja Ministerpräsidenten mit ihren hohen Ämtern betraut als die Engländer jemals Iren in die höhere Exekutive berufen hatten. Von den amerikanischen Präsidenten gehören nur Hoover, Eisenhower und Kennedy nicht der „herrschenden“ angelsächsisch-holländischen „Aristokratie“ an: auch „einfache“ Männer aus dem „Volke“, wie Lincoln oder Truman, stammen aus alten englischen Familien; nur ganz wenige Kabinettsmitglieder seit Ausrufung der unabhängigen transatlantischen Bundesrepublik haben nicht der „herrschenden“ Rasse angehört.

Immer wieder bricht die Einstellung des Verfassers durch: auf der nächsten Seite nennt er das ermordete Thronfolgerpaar „grace-less“, wozu bemerkt werden soll, daß der Herzog von Windsor, der immerhin etwas vom würdevollen Auftreten regierender oder thronnaher Gestalten verstehen c 'irfte, in seinem Erinnerungsbuch „/ King's Story“ die späteren Opfer des Attentates von Sarajewo als ein hervorstechend elegantes Paar charakterisiert; auf der anderen Seite tut der Verfasser dem österreichischen Hofe unrecht, wenn er die starren Formen seiner Etikette auf Maria Theresia zurückführt: er ist nicht Historiker genug, um zu wissen, daß es sich hierbei um die spanische, genauer sogar um die burgundische Hofetikette handelte.Deren Starre allein aber war es nicht, die Franz Ferdinand in eine Gegnerschaft zu Schönbrunn und der dort waltenden deutsch-magyarischen Aristokratie trieb: er durchschaute die Schwäche des dualistischen Systems und bereitete einen Bundesstaat vor, eine Art habsbur-gisches Unionskaisertum, das den Slawen gegenüber den Deutschen und ganz besonders gegenüber den Magyaren neu-alte Rechte verbriefen würde. Taylor versteht nicht genug österreichische Geschichte, sonst hätte er in diesem Zusammenhang die Schriften Karl Renners erwähnt, aber ausgezeichnet ist im Verlaufe der Schilderung der Katastrophe von Sarajewo seine Darstellung der Geisteshaltung des geheimnisvollen Drahtziehers „Apis“, jenes Obersten Dragotin Dimitrievic, Protagonisten der pan-slawistischen, vor allem panserbischen Richtung, der in Franz Ferdinand seinen slawophilen Gegenspieler fürchtete: die Attentäter selbst waren fanatisierte junge Burschen, die ahnungslos, worum es eigentlich ging, für tatsächlich klein-südslawische Machtträume des Hauses Karageorgievic das erzherzogliche Paar und sich selbst opferten, wobei Taylor betont, daß die serbische Dynastie und die Regierung Pasic mit dem Attentat faktisch nichts zu tun hatten. Die im Grunde befriedigende Antwort auf das Berchtoldsche Ultimatum und der spätere, mit einem Todesurteil endigende Prozeß der serbischen Regierung gegen Dimitrievic werden als Beweis angeführt. Eine mögliche Annexion Serbiens durch das von „Franz II.“ geleitete Österreich hätte nicht nur zu einem habsburgischen Jugoslawien geführt, sondern den Handelsprodukten der Serben den weiten Markt der schwarzgelben Monarchie eröffnet.

Widersprüche, Mißverständnisse...

Immer wieder begegnen wir in diesem bereits in den Rang eines „Bestseller“ vorgeschrittenen Buche ärgerlichen Ungenauigkeiten, die auch dann nicht besser werden, wenn der österreichfeindliche englische Historiker A. J. P. Taylor (Seite 9) zitiert wird. Es ist gewiß erfreulich, daß sich unser Edmond Taylor auf Stefan Zweigs herrliches und melancholisches Erinnerungswerk „Die Welt von Gestern“ oft und gern beruft, aber ihm, dem Europa-Fachmann aus den USA, stand und steht das Haus-, Hof- und Staatsarchiv am Minoritenplatz zur Verfügung — wie jedem anderen Historiker —, jedoch scheint er primary sources nicht zu benützen, ohne aber auf der anderen Seite vor falschen Feststellungen zurückzuscheuen, die selbst auf Grund von Sekundärmaterial sich hätten leicht berichtigen lassen: So schreibt er zum Beispiel, indem er im zweiten Kapitel die europäischen Monarchien im allgemeinen behandelt, daß die ganze eurasische Kontinentalmasse von den Vogesen bis Wladiwostok, mit Ausnahme der stets chaotischen Balkanhalbinsel, von Monarchen regiert worden sei, die zu Anfang des 20. Jahrhunderts wie ihre Ahnen geherrscht hätten und ihre „leicht zu behandelnden Parlamente“ (Seite 22) dank einer nur nominellen Konstitution zu manipulieren gewußt hätten. Diese Angabe steht im Widerspruch zum fünften Kapitel, dumm, taktlos und unrichtig überschrittet The Fossil Monarchy, das sich mit der Doppelmonarchie beschäftigt und in welchem die endlosen Schwierigkeiten Franz Josephs mit seinen Parlamenten geschildert werden, und mit den Angaben der eingangs erwähnten Landkarte, die ja nur die vier europäischen Kaiserreiche als „absolutistisch“ hinstellt.

Nicht unrichtig, weist Taylor auf die sonderbaren Zustände bei der Rettung der „Titanic“-Opfer hin — eines im übrigen im konstitutionellen England registrierten Ozeanriesen —, wobei mehr Passagiere der ersten Klasse gerettet wurden als aus den anderen Klassen. Eine Kleinigkeit: wiederum wartet uns der Autor mit der alten, rührenden Falschmeldung auf, es habe die Kapelle des sinkenden Schiffes die Begräbnishymne „Nearer, my Good, to Thee“ gespielt, während in Wirklichkeit die nicht weniger erhabenen Klänge des anglikanischen Chorals „Autumn“ die Todgeweihten auf die Ewigkeit vorbereiteten ...

Es ist rühaqurend — und sollte alle guten Österreicher mit Dankbarkeit erfüllen — wie sehr Taylor gerade Wien und die Länder der heutigen Alpenrepublik liebt und bewundert. In Franz Joseph sieht er nicht nur den pflichtbewußten, ewig-pessimistischen Monarchen, sondern auch einen witzigeren Ergänzer des Viktorianischen Zeitalters, dessen letzter Ausläufer er auch tatsächlich war. Daß unter den deutschen Bädern der mehr oder weniger goldenen Vorkriegszeit Marienbad zwischen Baden-Baden und Wiesbaden aufgezählt wird, darf weiter nicht verwundern, obwohl doch gerade Eduard VII. den böhmischen Kurort wegen seiner, des Königs, bekannten Abneigung gegen Deutschland frequentierte. Man mag Monarefeist sein oder nicht, abir wenn man über Dynastien schreibt, soll man sich in ihnen auskennen: Daß Erzherzog Friedrich der jungverstorbene Vater Kaiser Franz Josephs gewesen sein soll (Seite 83), würde sogar einen Karl Kraus, der gerade dieses Mitglied desErzhauses scharf angriff, bestürzen. Kaiserin Elisabeth war nicht die jüngste Tochter des Königs von Bayern (Seite 89) und ihre „herzogliche“ — und eben nicht königliche — Herkunft wurde ihr am Wiener Hof zu Anfang etwas verübelt. Die ungarische Revolution wurde nicht im Sommer 1848 (Seite 85), sondern erst im folgenden Jahr unterdrückt.

Auch der bekannte mystische Zug der Habsburger kommt bei Taylor nicht recht zum Vorschein: Karl V. zog sich nach seiner Abdankung nicht gerade in ein kleines Landhaus in Spanien (Seite 76) zurück, sondern bekanntlich ins Kloster San Just.

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